Suchen ja - aber Gott?
Glücksmomente sind, wenn sich ein Small Talk überraschend zu einem Deep Talk entwickelt – wie eines Abends mit der mir vorher unbekannten Madeleine. Wir kamen auf Glauben zu sprechen - interessanterweise eines der größten Tabuthemen unserer Zeit. Als sie aufbrechen musste, fragte sie noch mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier: Wenn Glaube eine Antwort auf meine innere Unzufriedenheit seinsollte, wie kann ich dann den Schlüssel zum Glauben finden? - Interessante Frage, für deren Beantwortung keine Zeit mehr blieb, über die ich aber noch länger nachdachte. So entstand diese fiktive E-Mail.
Hi Madeleine, unser intensives Gespräch ging mir noch lange nach. Besonders Deine Frage zum Schluss. Ich suche nach geeigneten Worten, die beschreiben, wie Du Glauben entdecken kannst. Die eine ´Antwort` gibt es nicht. Aber ich könnte versuchen Dir den Glauben anhand meiner eigenen Suche näher zu bringen.
In unserer technisierten Welt gibt es für alles eine Bedienungsanleitung – gedruckt oder bei YouTube. Beim Glauben ist das ein wenig anders. Der Glaube erschließt sich besser mit Hilfe von Bildern. Stell Dir einen Brunnen in einer Wüste vor. Aus der Tiefe sprudelt quellfrisches Wasser hervor. Aus allen Himmelsrichtungen kommen Menschen zu diesem Brunnen, um Wasser zu schöpfen und ihren Durst zu stillen. Aus der Vogelperspektive würde man viele Trampelpfade erkennen. So ähnlich ist es auch mit den Wegen zum Glauben. Sie sind individuell sehr verschieden. Manche sind länger, andere kürzer. Einige führen durch weite sandige Ebenen, andere durchs steinige Gebirge, wieder andere führen um eine Schlucht herum.
Einige Menschen sind zielstrebig zum Brunnen unterwegs. Sie wissen, wo er sich befindet; sind womöglich in einer Familie aufgewachsen, in der man das Wissen um diesen Brunnen von Generation zu Generation weitergegeben hat. Schon als Kinder sind sie regelmäßig mit Eltern und Geschwistern zu diesem Brunnen gegangen. Sie kennen den Weg und lieben das köstliche Wasser.
In anderen Familien ist dieses Wissen im Laufe der Jahrzehnte abhanden gekommen. In irgendeiner Kiste, vor Jahren auf dem Dachboden abgestellt, befindet sich noch eine Skizze, wie man zu dem Brunnen gelangt. Aber sie ist in Vergessenheit geraten und verblasst nach und nach. Seit es Wasser in Plastikflaschen gibt, muss man sich den langen Weg doch nicht mehr zumuten!
Anderen wurde vielleicht erzählt: Da soll es einen Brunnen mit köstlichem Wasser geben, ein paar Tagesreisen entfernt. Manche treibt ihre Sehnsucht, ihre Not, ihre Hoffnung, dass dort ihr Durst nach Leben gestillt werden könnte, dazu an sich auf den Weg zu machen. Eine vierte Gruppe schlürft Softdrinks statt Wasser und hat kein Interesse an einem Brunnen.
Den Glauben für sich persönlich zu entdecken hat also etwas mit der eigenen Sehnsucht zu tun. Obwohl es vielen Menschen materiell gut geht, spüren sie mehr oder weniger stark eine Leerstelle in ihrem Leben; eine Art Vakuum. Oder sie haben eine Frage, die sie permanent umtreibt. Erst die Sehnsucht nach einem erfüllten, gelingenden Leben bzw. die Einsicht, dass das eigene Leben nicht in Balance ist, ist Motor für die Suche; für das Aufbrechen. Natürlich bricht nicht jeder auf, um explizit Gott zu finden. Auch bei mir war das so – deshalb war ich ehrlich gesagt ziemlich überrascht bei meiner Suche irgendwann auf Gott zu treffen. Heute glaube ich jedoch tatsächlich, dass Gott das Ziel aller menschlichen Sehnsucht ist. Und dass es weniger an mir gelegen hat Gott zu finden. Vielmehr hat Gott mich gesucht. Ich wusste es nur nicht.
Jesus hat einer Frau einmal einen Hinweis darauf gegeben, woran man erkennen kann, in der Nähe des Ziels zu sein. Er sprach vom „Wasser des Lebens, das in einem zu einer immerwährend sprudelnden Quelle wird“ (nachzulesen im vierten Kapitel des Johannes-Evangeliums). Man bringt sich um die tiefgründige Erfahrung, wie es ist, von diesem Wasser des Lebens zu kosten, wenn - ich bleibe im Bild des Brunnens in der Wüste - man schattige Rastplätze am Wegesrand so verlockend findet, dass man dem Weg nicht weiter folgt. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen er-füllt und ge-füllt. Und oft versteht man ihn erst, wenn man einmal die Erfahrung des Erfüllt-Seins gemacht hat.
Ich bin davon überzeugt, dass der Glaube in dem Moment schon anfängt in einem zu wachsen, wenn man dieser Sehnsucht Raum gibt. Das heißt: Schon wenn ich losgehe; den Weg suche, kann ich den Segen Gottes erfahren. Es gibt eine Zeile in einem Segen aus Irland, in dem das ganz gut zum Ausdruck kommt. Sie lautet: May the road rise to meet you- möge sich die Straße ebnen um Dir zu begegnen bzw. Dir entgegen zu kommen. Das heißt: Du wirst Gott nicht erst am Ziel Deiner Reise, also am Brunnen, treffen, sondern es kann sein, dass er Dir bereits auf dem Weg dorthin begegnet – in Menschen, die Dich begleiten.
Das klingt jetzt ein wenig geheimnisvoll, und das ist es wohl auch. Der Glaube ist ja mehr als unser Verstand begreifen kann. Wir sollen unseren Verstand gebrauchen, aber Gott „wohnt“ in unserem menschlichen Herzen - und auch dies ist natürlich bildlich gemeint, denn die Bibel versteht unter dem menschlichen Herz sehr viel mehr als das pumpende Organ in unserem Körper, bestehend aus Gewebe und Blut. Das Herz ist in der Bibel, aber auch in vielen anderen Weisheitstraditionen, sozusagen der Sitz der menschlichen Persönlichkeit. Und weil der Mensch - so sagen die Theologen - erst durch die Begegnung mit Gott zum Menschen, zu einer unverwechselbaren Person wird, ist das Herz Zentrum unserer Person. Person kommt übrigens vom lateinischen per sonare, zu deutsch: durch etwas hindurch klingen. Meine Persönlichkeit ist so wie das, was aus meinem Herzen nach außen hindurch klingt.
Du hast erzählt, dass Du diese Woche mit Herzklopfen zu tun hattest, und dass Du das unangenehm fandest. Ich kann das ein wenig nachempfinden, weil es mir an bedeutenden Gabelungen meines Lebensweges ähnlich ging. Du musst womöglich gar nicht selbst aktiv nach Erfüllung suchen, sondern es reicht vielleicht schon, die Unruhe Deines Herzens als Hinweis zu sehen, dass Gott an Deine Tür klopft. Er ist Dir vielleicht schon näher als Du Dir vorstellen kannst. Es gibt einen wunderbaren Satz aus einem Gebet von Augustinus aus dem viertem Jahrhundert: „Unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir, Herr.“ Meines Erachtens geht es bei Dir tatsächlich um die Sehnsucht nach Frieden, die letztlich nur Gott schenken kann. Das ist übrigens der Kern der Weihnachtsbotschaft: Friede auf Erden. Friede jedem einzelnen menschlichen Herz. Möge alles, was Dich gegenwärtig aufwühlt, zur Ruhe kommen, sodass Du eine tiefe Gelassenheit spüren kannst, weil Du weißt: Alles wird gut - wann auch immer.
Woran kann man jetzt spüren, dass Gott einem begegnet? - Hm, keine einfache Frage, denn unsere Augen können Gott nicht sehen, weil er in einer für uns unsichtbaren Wirklichkeit lebt. Seine „Sprache“, würde ich sagen, ist Liebe. Das können ermutigende Worte sein, die Weggefährten mitgeben. Aber es ist wohl entscheidender, selbst mit Gott zu reden. Beten heißt: Reden mit Gott. Wenn man für sich allein anfängt zu beten, kommt es einem vielleicht erst einmal sehr komisch vor. Wie so eine Art Selbstsuggestion. Aber Gott „hört“ Dein Gebet. Er hat ein Ohr für Dich und Deine Anliegen. Deine Worte sind nicht vergeblich und bleiben auch nicht an der Zimmerdecke kleben. Erzähle Gott, dass Du nicht so richtig weißt und unsicher bist, wie Du Dich für seine Gegenwart öffnen kannst. Das ist nicht schlimm, denn Gott hat ein weites Herz! Er freut sich, wenn Du zu ihm Kontakt aufnimmst, auch wenn Dein letzter Kontakt schon lange zurückliegen sollte. Bringe Deine Anliegen, was Dich bedrückt, vor ihn. Ich bin davon überzeugt, dass Gebet eine therapeutische Wirkung entfalten kann lediglich dadurch, dass man die Dinge ausspricht, die einen belasten. Wer die Dinge beim Namen nennt und sie einem Anderen anvertraut, sorgt dafür, dass sie an Macht verlieren. Man bleibt nicht allein mit seinem Schmerz.
Und dann heißt es abwarten, dass Gott reagiert. Ich kann Dir absolut nicht sagen, wie es und was passieren wird. Ich weiß nur, dass etwas passiert. Am Anfang hatte ich auch noch nicht so richtig die Sensoren, um sagen zu können: Hier hat jetzt Gott sich bemerkbar gemacht und eine Tür in meinem Leben geöffnet. Ich wusste nicht, ob ich mir jetzt etwas einbilde oder nicht. Diese Gewissheit wächst erst mit der Zeit. Trotzdem “habe” ich den Glauben nicht und reagiere bis heute mit Vorsicht auf Leute, die glasklar und eindeutig Ereignisse in ihrem Leben auf Gottes Handeln zurückführen. Das empfinde ich als zu vollmundig. Gleichwohl bin ich Gott dankbar für seine ´Führung`.
Gottes ´Führung` verstehe ich so: Gott bringt mir nicht bei bestimmte moralische Überzeugungen zu vertreten. Vielmehr lerne ich im Zwiegespräch mit Gott meine Seele zu führen. Gebet hat für mich etwas mit Gastfreundschaft zu tun. Es ist so, dass ich Gott einlade, bei mir zu Gast zu sein. Ich gebe mir Mühe, damit Gott es bei mir genießt und vielleicht länger bleibt, als er sich vorgenommen hatte. Diese Begegnungen prägen mich. Das Wesen des Glaubens ist Vertrauen. Glaube heißt Beziehung. Gott hat einen jeden Menschen geschaffen, auch wenn wir leibliche Eltern haben, und er möchte an unserer Seite durchs Leben gehen. Wie in menschlichen Beziehungen wächst tiefe Freundschaft erst mit der Zeit, und keine Freundschaft ist wie die andere. So kannst Du vielleicht auch irgendwann sagen: „Gott ist meine Zuflucht und Stärke“ (nachzulesen in Psalm 46, Vers 1).
Als ich die Bedeutung des christlichen Glaubens für mich entdeckt habe (genau in der Zeit, als ich Abi gemacht habe), hatte ich schon fast zwei Jahre vergeblich versucht dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur zu kommen. Ich las biblische Texte so wie ich es aus dem Deutschkurs gewohnt war: kritisch hinterfragend. Eine neue Erfahrung, die letztlich für mich den Durchbruch gebracht hat, war sich im Gebet auf die verborgene Wirklichkeit Gottes einzulassen. Quasi auf Probe zu glauben; so tun, als ob. Oder anders ausgedrückt: Sein Herz vor Gott zu öffnen. Schlicht ihm zu sagen: Wenn es Dich wirklich gibt, dann zeig Dich mir. Dann erkläre mir den Sinn biblischer Texte.
Es gibt viele berechtigte Kritik an der Kirche, viele ernstzunehmende Argumente gegen den Glauben usw. Darin kann man sich wunderbar einrichten. So schaffe ich jedoch Distanz, und Gott werde ich so wahrscheinlich nicht begegnen. Religion erschließt sich, indem man sich das Ganze nicht nur von außen anschaut und sich eine Meinung bildet, sondern indem man die Innenperspektive einnimmt: Die kritische Herangehensweise mal für einen Moment außen vor zu lassen und sich auf Gott einzulassen. Der Glaube beginnt also mit einer Erfahrung, die ich mir nur von Gott schenken lassen kann. Theologen haben dafür den Begriff „Unverfügbarkeit“ entwickelt.
2018 hat einer der bedeutendsten Soziologen unserer Zeit, Hartmut Rosa, diesen Begriff zum Titel eines inspirierenden Buches gemacht. Es hat starke Bezüge zu seinem 2016 erschienenen Werk „Resonanz“. Rosa argumentiert in etwa so: Mit dem Kopf mache ich mir die Dinge verfügbar. Das Herz hingegen respektiert die den Dingen innewohnende Würde. Sie werden erst resonant, also zu mir “sprechen”, wenn ich nicht der Versuchung erliege sie beherrschen zu wollen.
Das Gleiche gilt auch in Bezug auf Gott. Kurzum: Erfahrungen des Herzens sind von einer anderen Dimension als die des Kopfes. Gott bringt etwas in mir zum Schwingen. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, brauchte ich wie gesagt zwei Jahre. Das Verhältnis von Verstand und Herz ist bekanntlich spannungsvoll. Wenn ich einem Menschen immer kritisch begegne, wird es mir vermutlich nicht gelingen sein Freund zu werden. Und ich werde ihm dann auch nicht wirklich gerecht. Andererseits: Nicht naiv an den Glauben heranzugehen, sondern sich auch in religiösen Dingen seines Verstandes zu bedienen, halte ich für unverzichtbar. Aber der Intellekt sollte einen nicht davon abhalten sich auf Gott einzulassen.
Um noch einmal das Bild des Brunnens aufzurufen: Das Besondere am Brunnen ist ja im Unterschied zu einer oberirdischen Quelle, dass sich das Wasser in der Tiefe befindet. Man braucht also ein Gefäß, mit dem man Wasser schöpfen kann, und ein ausreichend langes Seil, an dem man das Gefäß in die Tiefe herunterlässt. Das Gebet ist wie das Gefäß, das ich in die Tiefe herablasse. Im Gebet berühre ich das, was bei mir selbst in der Tiefe liegt und gestatte Gott Zugang dazu. Behutsam wird es nach oben ans Tageslicht gezogen. Dann kann Heilung beginnen und Vertrauen wachsen.
Wie gesagt: Ich kann Dir den Glauben nicht anders als in Bildern und mit Hilfe meiner eigenen Lebenserfahrung versuchen nahe zu bringen. Der Glaube ist auch nie fertig, sondern man ist ständig auf dem Weg des Glaubens unterwegs wie ein Pilger. Wenn Du anfängst die Bibel zu lesen, dann werden Dir weniger hilfreiche Zitate begegnen, die in einem Satz komprimiert Lebensweisheit vermitteln, sondern häufig Geschichten aus dem Leben. Sie berühren Herz, Verstand und Gefühl gleichermaßen und erzählen von Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Nicht alle Geschichten „sprechen“ sofort zu einem. Manche Bibeltexte finde ich schwierig zu verstehen, weil sie vor zweitausend oder mehr Jahren in einen bestimmten Kontext hinein gesagt wurden. Häufig muss man ein wenig in sie hineintauchen, um ihre Botschaft zu ergründen. Dazu bedarf es der theologischen Auslegung. Die ist oft weniger eindeutig als es manchen Zeitgenossen behagt. Oft ist es auch so, dass man in biblischen Texten je nach Lebenssituation, in der man sich gerade befindet, unterschiedliche Aspekte entdeckt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Nicht ich als Leser hinterfrage die biblischen Texte (kritisch), sondern es ist genau anders herum: Die biblischen Texte hinterfragen meine Lebensgeschichte; wollen mich auf eine verborgene Wirklichkeit in meinem Leben hinweisen. Dazu muss ich nicht mehr als ihnen mit einer offenen, erwartungsvollen Haltung begegnen; also bereit sein mich beschenken zu lassen.