Vitalität als Motor von Kirchenentwicklung
Mit den Startups entstand ein ungewöhnliches Berufsbild: der/die Feelgood-Manager*in. Ihr Hauptaugenmerk gilt der Unternehmenskultur und der Kommunikation. In bento beschreibt Feelgood-Managerin Christina ihren Job so: „Ich kümmere mich darum, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerne zur Arbeit kommen und sich entwickeln können. (…) Ein Unternehmen muss heute schon mehr bieten, damit gute Leute kommen und auch bleiben wollen.“ Materielle Anreize spielen bei Job-Entscheidungen heute eine geringere Rolle als früher. Wo Menschen zusammenarbeiten, bekommen hingegen weiche Faktoren wie kulturelle oder gesundheitliche Aspekte ein immer stärkeres Gewicht. Und die Frage nach dem Sinn.
Wie würden sich Gemeinden wohl entwickeln, hätten sie eine Feelgood-Managerin? Eine Person, die sich nicht um das Operative kümmert, also z.B. dass Kindergottesdienst verlässlich stattfindet, sondern das Zusammenspiel des Ganzen im Blick hat. Die sich um die Vitalfunktionen kümmert, für die Entwicklung der Kultur sorgt und alles aufspürt, was Menschen daran hindert, 100% zu geben bzw. sich zu 100% wohlzufühlen und sich mit der Community zu identifizieren. Nicht in falsch verstandenem Drang nach Selbstoptimierung und Perfektion, sondern damit die Ressourcen, mit denen Gott eine Gemeinschaft begabt hat, bestmöglich zur Entfaltung gelangen können. Dies ist ein immerwährender Prozess des Wachsens und des Werdens.
Die Bibel bezeichnet die Gemeinde als „Leib Christi“. Kultur oder Umgangsformen einer christlichen Gemeinschaft sind soz. ihre Körpersprache. Im zurückliegenden Jahrzehnt ist die Sensibilität für die psychische Gesundheit des menschlichen Organismus größer geworden. Wikipedia beschreibt die psychische Gesundheit als einen „Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann. Psychische Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung von Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und sozialer Teilhabe.“
Der Fokus psychischer Gesundheit richtet sich also auf den Erhalt lebenswichtiger Vitalfunktionen. Vitalität ist das Ergebnis zahlreicher Einflussgrößen, die komplex zusammenwirken. Wie ist es aber um die psychische Gesundheit des Leibes Christi bestellt? – An dieses Thema haben sich schon verschiedene Theologinnen und Theologen herangetastet, u.a. Robert Warren, Verantwortlicher der Anglikanischen Kirche für Evangelisation und Gemeindeentwicklung. 2008 beschrieb er sieben biblische Kennzeichen vitaler Gemeinden:
1) Wir beziehen Kraft und Orientierung aus dem Glauben an Jesus Christus. Heißt weitergedacht (mit meinen Worten): Wir feiern Gott fantasievoll in unserer Mitte. Wir helfen Menschen die Gegenwart (Heiligkeit, Freundlichkeit, Liebe) Gottes in ihrem Leben zu entdecken und zu erleben. Wir bringen Spiritualität mit Leidenschaft zum Ausdruck. Wir sind sprachfähig im Glauben. In unserem Handeln ist der Spirit Jesu spürbar.
2) Wir richten den Blick nach außen. Wir engagieren uns im Gemeinwesen. Wir bleiben nicht in unserer Komfortzone. Wir nehmen empathisch wahr, was Menschen fühlen und bewegt, und machen ihre Themen zu unseren. Wir sind uns nicht selbst genug, sondern lieben die, die (noch) nicht zur Gemeinde gehören. Wir befähigen Gemeindeglieder ihren Glauben an dem Platz zu leben, an den Gott sie hingestellt hat.
3) Wir finden heraus, was Gott heute will. Wir leben aus einer Haltung des Gebets und der Verheißungsorientierung. Wir beteiligen alle, die sich gern beteiligen möchten, nicht nur die gewählte Gemeindeleitung, an der Entwicklung der gemeinsamen Vision. Wir handeln zielorientiert, aber sind uns in jedem Moment der Gnade Gottes bewusst.
4) Wir wagen Neues und wollen wachsen. Echte Veränderung beginnt im Herzen, nicht durch Strukturveränderungen. Wir hinterfragen Gewohnheiten und üben uns im Loslassen. Wir sind bereit uns den Aufbruch etwas kosten zu lassen. Wir weichen Widerständen nicht aus. Wir verstehen Scheitern als Chance, etwas zu lernen. Selbst kleine Erfolge feiern wir.
5) Wir handeln als Gemeinschaft. Wir fördern zwanglose und offene soziale Netzwerke, in denen sich vertrauensvolle persönliche Beziehungen entwickeln können. Wir fördern individuelle Begabungen anstatt Menschen in vorgegebene Rollen zu pressen. Wir fördern Aufrichtigkeit statt Konfliktvermeidung; streben nach der Einheit von Liebe und Wahrheit. Wir leiten im Team und verstehen Leitung als Empowerment. Wir leiten transparent und pflegen offenen, konstruktiven Dialog. Wir gestalten Meetings effizient und wertschätzend.
6) Wir schaffen Raum für alle. Wir handeln inklusiv, nicht exklusiv. Wir fördern Vielfalt. Wir nehmen die eigene Gemeinde mit den Augen Außenstehender wahr, sorgen für Freiräume für Neue(s), und sind sensibel für unbewusste Ausschlussmuster. Wir bauen aktiv Beziehungen zu Neuankömmlingen. Wir sind realistisch bezüglich des Machbaren: Erreichbar ist die Generation +/- 10 Jahre ausgehend vom eigenen Alter. Wir sind ein Fingerabdruck des Sozialraums.
7) Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche. Wir sind aktiv, aber nicht aktionistisch. Wir achten auf das rechte Maß und verausgaben uns nicht völlig. Wir sind nicht verbissen, sondern gelassen und humorvoll. Wir machen nicht alles, aber was wir machen, machen wir gut. Wir gehen verantwortlich mit den uns zur Verfügung gestellten Ressourcen um.
Eine Gemeinde, die diese Haltungen verinnerlicht und nach Wegen sucht, sie im Alltag zum Ausdruck zu bringen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit Erneuerung erleben, bei bestimmten Aspekten Trendwenden vollziehen, und ihre Attraktivität für Außenstehende steigern. Wie kann man das Verhältnis von Vitalität und Wachstum beschreiben? - Wachstum in der Natur ist ein organischer Prozess, der das Vorhandensein eines guten Nährbodens und das rechte Maß von Licht, Wärme und Feuchtigkeit voraussetzt. Wachstum in Organisationen zu erleben ist unverfügbar, aber oft auch Ergebnis einer bewussten Arbeit mit Zielen. Dabei geht es nicht vordergründig um bessere Kennzahlen wie z.B. eine wachsende Zahl von Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern. Quantitatives Wachstum ist nicht Ziel, sondern Folge von Qualität. Die Gemeinschaft wächst organisch über Mitglieder-, Milieu-, Generations- oder ethnische Grenzen hinweg. Sie wird dadurch aller Voraussicht nach auch unabhängiger von Kirchensteuer und entwickelt kreative Formen mikrofinanzieller Beteiligung.
So setzen um Vitalität bemühte Gemeinden sich in erster Linie qualitative, messbare Ziele – weniger auf der Ebene konkreter Angebote als vielmehr auf der Ebene des ´weichen Faktors` Kultur. Um die Zielerreichung evaluieren zu können, bedarf es idealerweise des Einsatzes entsprechender qualitativer Instrumente, z.B. Interviews, in denen die Menschen gebeten werden, in ihren eigenen Worten zu erzählen, was sich in ihrem Leben verändert hat, z.B.:
Das Interesse am Glauben wird geweckt.
Menschen blühen auf und erleben ein wachsendes Maß an Freiheit und Lebensfreude.
Menschen haben eine größere Sprachfähigkeit im Glauben entwickelt und können seine Bedeutung für ihr Leben beschreiben.
Menschen, die Brüche erfahren haben, konnten sich mit ihrer Geschichte versöhnen und neu anfangen; Resilienz und Selbstwirksamkeit entwickeln.
Menschen werden zuversichtlicher, bekommen ein weites Herz und werden solidarischer.
Menschen fühlen sich als Teil der Community und fragen danach Verantwortung zu übernehmen.
Menschen erzählen ihren Freunden davon und bringen sie mit.
Neben diesen eher subjektiven Kriterien gibt es weitere objektive Kriterien, die bei einer Evaluation beachtet werden sollten, z.B.:
Wächst die Zahl der Kontakte zu oder Rückmeldungen von bislang eher inaktiven Mitgliedern?
Wie entwickelt sich das Durchschnittsalter der Gemeinde? In welchem Altersspektrum erlebt die Gemeinde eine positive Dynamik – im Verhältnis zu ihrem lokalen Umfeld?
Gelingt es, dass sich Newcomer der Gemeinde anschließen?
Wie entwickelt sich die Zahl der insgesamt ehrenamtlich geleisteten Stunden?
Welche Handlungsfelder erzeugen besonders viel Resonanz?
Interessant wird es, wenn Menschen gebeten werden, ihre Sicht auf Kirche und Gemeinde über einen längeren Zeitraum zu beschreiben, z.B. vor fünf Jahren, heute und in fünf Jahren. So lassen sich Entwicklungen nachzeichnen und Prognosen anstellen.