Vorübungen für Wunder

Vorübungen für Wunder

Eine Replik auf Günter Thomas: Gebrauchsanleitung für das Endspiel (?) I, in: Zeitzeichen vom 20. Juli 2020

Günter Thomas deutet die Veröffentlichung der EKD-Mitgliederstatistik 2019 und der Elf Leitsätze, die das Zukunftsteam erarbeitet hat, als Anpfiff fürs Finale. Aber ganz sicher ist er sich auch nicht, sonst hätte er wohl kein Fragezeichen in Klammern hinzugefügt. Denn schließlich weiß man nie, wer am Ende den Sieg davontragen wird. In der Position des Titelverteidigers und All-Time-Champions: Die Institution Kirche. Verglichen mit der Entwicklung, die Kirchen in manch anderen europäischen Ländern bereits hinter sich haben, macht die Evangelische Kirche in Deutschland – Abgesang hin oder her – noch immer eine recht gute Figur. Sie ist ein wenig in die Jahre gekommen, doch ihre Verfassung ist erstaunlich stabil, obwohl es starke regionale Unterschiede gibt. Die Ev. Landeskirche in Anhalt beispielsweise verlor zwischen 2013 und 2019 ca. 37% ihrer Mitglieder. 

Günter Thomas beschreibt, dass die Kirchenzugehörigkeit in den Niederlanden von 64 auf 9% zurückgegangen ist, lässt aber leider offen, in welchem Zeitraum. In Deutschland vollzog sich dieser Rückgang bislang gemächlicher. Obwohl sich der Anteil der Kirchenmitglieder in Deutschland seit 1970 nahezu halbiert hat, erlebten Katholiken und Protestanten in Deutschland eine mittlerweile fünf Jahrzehnte andauernde Phase der Prosperität, die in der Kirchengeschichte vermutlich ihresgleichen sucht und letztlich der positiven wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet ist. Nicht erst das Corona-Jahr 2020 wird dieser Entwicklung ein disruptives Ende bereiten – nein, bereits 2019 könnte in die Geschichte eingehen, als der Exodus der Kirchenmitglieder sprunghaft anstieg, sich womöglich auf dem höheren Level einpendeln und fortan schneller vollziehen könnte. Vielleicht werden uns die Sparrunden der zurückliegenden Jahrzehnte irgendwann lächerlich vorkommen im Vergleich zu den Anpassungsleistungen, die demnächst erbracht werden müssen. Willkommen in der VUCA-Welt.

VUCA steht im Englischen für: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity; zu deutsch: Volatilität/Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Als Kirche befinden wir uns mit vielen anderen tragenden Säulen unserer Gesellschaft im gleichen Boot: Parteien, Gewerkschaften, Nachbarschaften, freiwillige Feuerwehr, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Klimawandel vollzieht sich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Gemeinsam erleben wir eine Erosion des Vertrauens und abnehmende Bindungskräfte. Also eine Phase wachsender Instabilität. Organisierter Gemeinsinn schwindet zunehmend, verlässliche Solidarität wird durch spontane ersetzt. Man mag ein Klagelied anstimmen, dass alles den Bach runtergeht. Aber was hilft’s? Es ist daher richtig, einen Diskurs über die zukünftige Gestalt der Kirche anzustoßen, wie mit den Elf Leitsätzen geschehen, wenngleich manch einer auch dieser Diskussionen überdrüssig ist und von der Kirche im Dauer-Reformstress spricht. Die Baustelle ist jedenfalls groß.

Das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen, die wir nur schwer beeinflussen können, lässt uns zusehends alt aussehen, und wir tun gut daran, unsere Fitness zu trainieren und agiler zu werden, um wieder aufschließen und Schritt halten zu können. Entscheidend wird sein, ob es uns gelingt, ein positives Bild der zukünftigen Kirchengestalt zu entwickeln, das Energie erzeugt anstelle von Abwehr. Es ist zu erwarten, dass sich die Institution nicht klaglos in ihr Schicksal fügen und sich zurückziehen wird. Gremien und Kirchenleitungen stehen gewiss in der Versuchung, weiterhin so steuern zu wollen, wie sie es gewohnt sind, aber sie werden sich eingestehen müssen, dass in unsicheren Gewässern die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten abnehmen. Fahren auf Sicht wird zum bestimmenden Modus.

Unsere Gesellschaft ist vielleicht bereits in einem viel größeren Maße Netzwerkgesellschaft, als uns in der Kirche bewusst ist, und der Wandel, den es meines Erachtens zu gestalten gilt, ist der von der Kirche als Institution hin zu einer Netzwerk-Kirche. Die Architektur der Kirche der Zukunft könnte der eines Netzwerks ähneln. Netzwerke sind fluid, dezentral und kennen keine hierarchische Leitung. Sie haben die Angewohnheit, sich selbst zu organisieren und sich ständig zu verändern. Gemeinden werden locker miteinander verbunden sein. Stabilität bekommt das Netzwerk durch bestimmte Knotenpunkte (Hubs), die Dienstleistungen für alle Netzwerkteilnehmenden erbringen. Kommunikation und Kooperation geschieht auf Grundlage definierter Standards. Geteiltes Wissen ist eine zentrale Ressource von Netzwerken. Ein Netzwerk steuert bzw. reguliert sich weitgehend selbst - steuern heißt demnach: Netzwerkdynamik stimulieren.

Daher glaube ich nicht, dass die Konfliktlinie zwischen der Ortsgemeinde und den kirchlichen Werken, Diensten und Initiativen, die Günter Thomas „NGO-Bewegungskirche“ nennt, verläuft. Sind doch letztlich alle Ausdrucks- und Sozialformen von Kirche herausgefordert, einerseits beweglich zu sein und andererseits kompatibel mit ihrem Umfeld, sprich: mit gewandelten Lebenswelten. Können soziale Netzwerke andocken, ist die Frage. 

Den Verfasserinnen und Verfassern der Elf Leitsätze hält Günter Thomas vor, die Ortsgemeinde bereits abgeschrieben zu haben. Vielleicht wird dieser Eindruck erweckt, weil in der Ortsgemeinde die Krisenphänomene und Handlungsbedarfe am deutlichsten sichtbar sind. Aber Gemeinden sind für die christliche Kirche konstitutiv und werden auch zukünftig ihr Rückgrat bilden. Allerdings wird das Parochialprinzip, nach dem jede evangelische Christin und jeder evangelische Christ automatisch der Gemeinde an ihrem Wohnort zugeordnet werden, zunehmend zum Problem. Es ist in einer Zeit wachsender Mobilität einfach fragwürdig geworden. Da sich unser Leben an verschiedenen Orten abspielt und wir unsere sozialen Netzwerke wählen, ist der Ortsbezug für viele Menschen inzwischen von geringer Bedeutung - abgesehen von alltäglichen Dienstleistungen, die wir gern wohnortnah in Anspruch nehmen. 

Nähe ist schon länger keine ausschließlich geografische Kategorie mehr, sondern ich fühle mich denen nah, die so ähnlich leben wie ich und die dem gleichen Milieu angehören. Allerdings ist geografische Erreichbarkeit prinzipiell von Vorteil für Menschen, deren Mobilität aus unterschiedlichen Gründen eingeschränkt ist, z.B. Familien und Alleinerziehende mit kleinen Kindern, Seniorinnen und Senioren, Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Für diese Gruppen spielt häufig das direkte Wohnumfeld eine größere Rolle als bei anderen Menschen mit größerem Aktionsradius. Hier kann die Ortsgemeinde ihre klassischen Stärken am ehesten ausspielen und Angebote entwickeln, die für diese Gruppen attraktiv sind.

Die Konfliktlinie verläuft also vielmehr innerhalb des Parochialsystems. Meine These: Den vor uns liegenden Transformationsprozess werden nur vitale Gemeinden überleben. Von der flächendeckenden Versorgung wird ein ausgedünntes, plurales Netz vitaler Gemeinden mit klaren Profilen übrigbleiben, das in seiner Gesamtheit breite Andockflächen für soziale Netzwerke bietet. Nun wäre natürlich genauer zu definieren, woran sich Vitalität festmacht. Dazu lohnt vielleicht ein Seitenblick in die Wirtschaft: Unter dem Druck des Fachkräftemangels haben viele Wirtschaftsunternehmen im zurückliegenden Jahrzehnt ein betriebliches Gesundheitsmanagement aufgebaut. Sie haben sich gefragt: Welche Bedingungen fördern die Zufriedenheit am Arbeitsplatz, und welche hindern? So wuchs eine Sensibilität für die psychische Gesundheit, für Wohlbefinden. Startups haben häufig Feelgood-Manager*innen. Sie wissen, dass ausgerechnet der weichste Faktor Unternehmenskultur den Ausschlag gibt im Rennen um die klügsten oder innovativsten Köpfe. 

In Anlehnung daran könnte die Kirche Kriterien für vitale Gemeinden beschreiben. Oberflächlich betrachtet kann man die Vitalität einer Gemeinde daran festmachen, ob ein kontinuierlicher Strom der Erneuerung spürbar ist. Ich habe leider bereits Gemeinden kennengelernt, in denen dieser Stream schon vor Jahren versiegte, nur vereinzelt Menschen von außen hinzukamen und der Altersdurchschnitt ungebremst stieg. Das wohl wichtigste Merkmal vitaler Gemeinden: Sie legen Wert auf eine gastfreundliche Kultur. Dann erweitert sich der Freundeskreis der Gemeinde leicht über ihr parochiales Einzugsgebiet hinaus, und aus Gästen oder Freunden können Unterstützer oder Mitglieder werden. Ein zweites Merkmal: Sie sind sich ihrer Stärken und der Bedeutung von Milieus und Ästhetik bewusst. Ein dritter Aspekt: Sie arbeiten mit qualitativen Zielen und evaluieren ihr Handeln. Diese Andeutungen geben vielleicht ein Gefühl dafür, wie sich diese Liste fortsetzen ließe (vgl. auch Wilfried Härles Untersuchung von 32 wachsenden Gemeinden aus dem Jahr 2008).

Neben der soziologischen Ebene spielen natürlich auch theologische Faktoren eine Rolle. Die Frage, woher denn die Christenmenschen kommen (sollen), ist sehr zentral. Vitale Gemeinden sind Ökosysteme, in denen der Glaube gelernt werden und wachsen kann. Liberalität allein, das zeigt die Erfahrung, erzeugt keine hinreichende Bindung. Der meines Erachtens häufig zu Unrecht diskreditierte und fälschlicherweise häufig mit dem Label evangelikal versehene landeskirchliche Pietismus hingegen schon. Es gehört zur DNA der vom Pietismus geprägten Gemeinden, dass Menschen theologisch sprachfähig werden und die Bedeutung des Glaubens für die persönliche Lebensgestaltung beschreiben können. Glaubenskurse zählen häufig zum Regelangebot pietistisch geprägter Gemeinden. Theologische Bildung ist auch unverzichtbare Grundlage für das Empowerment von Ehrenamtlichen. Pietistische Theologie ist in einem stärkeren Maße christuszentriert als es in theologisch anders geprägten Gemeinden der Fall ist, in denen es häufig um Kirche geht. Natürlich sind auch pietistisch geprägte Gemeinden keinesfalls imprägniert vor Verkrustungen und Überalterung. Dennoch kann man in vielen etwas lernen im paulinischen Sinn: Prüfet alles, und das Gute behaltet.

Warum Kirchenmitgliedschaft? Es ist sicher lohnenswert, die Kirchenmitgliedschaft theologisch, religionspsychologisch und organisationssoziologisch zu diskutieren, wie es Günter Thomas anregt. Aber es wird vor schmerzhaften finanziellen Einschnitten nicht bewahren. Der Typus, der sagt: „So, wie die Kirche ist, ist sie nichts für mich, aber es ist wichtig, dass es sie gibt“, steht inzwischen auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Die Kirche als anonyme Massenorganisation, in der 85% stille Mitglieder die Arbeit für jene aktiven 15% finanzieren, hat nur geringe Überlebenschancen. Solange die Kirche mit dem Gros ihrer Mitglieder nicht einmal kommuniziert und sich damit tröstet, dass diese am liebsten in Ruhe gelassen werden wollen, braucht sie sich über den Exodus freilich nicht wundern. Bindung entsteht durch gelingende Kommunikation, Beteiligung und durch gemeinsame, positive Erlebnisse. Aber die Erfahrung einer guten evangelischen Jugendarbeit ist keine Garantie für einen lebenslangen Verbleib in der Kirchenmitgliedschaft. Ich finde, die digitale Kommunikation muss dringend ausgebaut werden, aber wer im digitalen Raum nicht nach Kirche sucht, wird ihr auch nicht begegnen. Deshalb sei die Frage erlaubt: Warum gibt es kein attraktives, gedrucktes Mitgliedermagazin, das regelmäßig allen evangelischen Haushalten zugestellt wird? - Es wäre ein sichtbarer, haptischer Anker, der natürlich auf digitale Inhalte verweist. Und das mit Abstand auflagenstärkste Magazin Deutschlands; finanziell vermutlich kostenneutral, weil attraktiv für Anzeigenkunden; und hätte mit Sicherheit einen positiven Effekt für die Mitgliederbindung. Das Magazin BENE aus dem Bistum Essen könnte ein Beispiel geben. Aber letztlich wird der Exodus dadurch auch höchstens abgebremst werden - wie gesagt: Gegen die Unlust, sich langfristig an Institutionen zu binden, ist wenig auszurichten. Kirche? - Gern bei Gelegenheit.

Was uns wirklich nachdenklich machen muss, ist die Tatsache, dass das Interesse vieler Menschen an Spiritualität, ihre Suche nach Sinn und ihr Wunsch nach lebensbegleitenden Ritualen an Meilensteinen ihrer Biografie immer weniger mit dem Angebot der Kirche kompatibel zu sein scheint. Schon 2006 schrieb Paul-Michael Zulehner in Zeitzeichen, dass die spirituelle Suche unserer Zeitgenossen im aufgeklärten Europa weitgehend an den Kirchen vorbeigehe. Auch hier scheint mir der kulturelle Graben zwischen der Kirche und unseren Zeitgenossen die Ursache zu sein. In der bürgerlichen Mitte, dem sozial-ökologischen, dem konservativ-etablierten und dem traditionsbewussten Milieu mag die Kommunikation des Evangeliums noch gelingen, aber je postmoderner, liberaler oder prekärer die Milieus werden, desto schwächer sind die lebensweltlichen Brücken ausgeprägt. 

Sinn konstruiert sich ebenfalls je nach Milieu unterschiedlich. Spirituelle bzw. liturgische Kompetenz ist daher auch eine Frage, inwieweit die pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die milieuspezifische Ästhetik und Sprache beherrschen und in der Lage sind, gemeinsam mit Milieuangehörigen unkonventionelle, authentische Ausdrucks- und Sozialformen des christlichen Glaubens zu entwickeln. Jeder von uns ist begrenzt in seiner Reichweite, die sich in der Regel auf unser eigenes Milieu beschränkt. Die meisten Pfarrer*innen stammen aus drei oder vier von zehn Milieus - entsprechend milieuverengt ist unsere Kommunikation. Wir bräuchten also Hedonisten, um Hedonisten das Wort Gottes nahezubringen, denn Pfarrer*innen, die vorrangig innerhalb ihres Milieus arbeiten und in dieser Kultur zuhause sind, erspüren intuitiv, wie das Evangelium ganzheitlich in diesem Milieu kommuniziert werden kann. Ein Schlüssel könnte darin liegen, die Zugänge in den pastoralen Dienst zu überdenken. Die soziologische Milieuperspektive und die ihr entsprechende inkarnatorische Theologie sprechen m.E. für pastorale Qualifizierungen unterhalb des zweiten theologischen Examens. Wie wäre es z.B. mit einer evangelischen Fresh X in der Gothic-Szene?

Alles im Lot

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Atemlos

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