Atemlos
Es gibt Songs, die plötzlich niemand mehr hören will. War es nach dem Tsunami am 26. Dezember 2004 „Die perfekte Welle“ von Juli, ist es 2020 „Atemlos durch die Nacht“. Zu sehr erinnert das Lied an Tausende von Corona-Patienten mit schweren oder sogar tödlichen Krankheitsverläufen, die im wahrsten Sinne des Wortes ihres Atems beraubt wurden. Und wir Gesunden erlebten einen nie gekannten globalen Shutdown in atemberaubendem Tempo. Ist Corona das Krankheitsbild für unsere atemlos gewordene Welt? - Gedanken zum Atem.
Atem Gottes
Klar: Ohne Moos nichts los. Doch eigentlich geht es um mehr im Leben. Nämlich um die Frage: Wofür brennst Du? Wozu stehst Du morgens auf? Was treibt Dich aus dem Häuschen, wenn draußen nicht gerade ein Virus sein Unwesen treibt? - Ich finde, nirgendwo in der Bibel werden diese Fragen mit größerer Dringlichkeit gestellt als in der Erzählung vom Pfingstwunder. Pfingsten ist die Hommage an den Heiligen Geist. Seine Lieblingsfarbe ist Rot. Für Feuer und Leidenschaft. Himmlische Energie. Göttliche Dynamik.
Es ist schon eine krasse Story, das erste Pfingsten. Hier begegnen wir der wilden, ungezähmten Seite der Religion. Es ist der 50. Tag, nachdem Jesus auferstanden ist. Aber seine Freunde brennen für nichts mehr. Sie waren noch vollkommen traumatisiert durch das Kreuz. Ihr Motto: #westayathome. Auf unbestimmte Zeit. Sie hatten keine Idee, wie es weitergehen könnte. Sie sind verängstigt, verhalten sich unauffällig. Doch dann kommt der Heilige Geist ins Spiel. Manchmal kommt er als zarter Windhauch daher, aber ebenso liebt er stürmische Auftritte. Wäre die Dreieinigkeit eine Werbeagentur, wäre der Heilige Geist der Kreativdirektor. Ein Querdenker; ein Mover and Shaker, der Dinge und Menschen in Bewegung setzt. Ein Visionär, der begeistern will und kann, und uns die Dinge in einem anderen Licht sehen lässt.
Auch an jenem Tag ist der Heilige Geist für ´ne Überraschung gut. Das Feuerwerk, das er entzündet, brennt sich tief auf der Festplatte der Jünger und der Nachwelt ein. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass jener Tag in Jerusalem mit einem „Brausen vom Himmel“ begann. Das ist ganz im Stil des Heiligen Geistes, der im Hebräischen auch ´Ruach` genannt wird - Atem Gottes. Womit gleich unmissverständlich klar ist, dass er die trüben Gedanken, die Jesu Freunde gefangen halten, ein für alle Mal wegpusten will. Er führt Luft zu, damit ihre Glut wieder auflodert. Danach wird nichts mehr so sein wie es war. Denn „Zungen erschienen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen“, erzählt die Bibel in Bildern weiter. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Doch plötzlich lösen sich ihre Zungen wirklich, und „sie fingen an zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.“
Der ´Ruach` hat sie ergriffen. Nicht gefragt, ob er darf. Das ist wie Hals über Kopf Verlieben. Verliebte tun durchgeknallte Dinge, um ein Herz zu erobern. Ihre Fantasie kennt keine Grenzen. So macht auch der Geist lebendig. Er hauchte den Jüngern neues Leben ein wie einst Adam und Eva. From Zero to Hero. Von einem Moment auf den anderen steht ihnen klar vor Augen, dass die Geschichte mit Jesus weitergeht. Mit dieser Power im Herzen trauen sie sich endlich, öffentlich über die Auferstehung zu sprechen und dass Jesus den Tod besiegt hatte. Sie erleben eine nie gekannte innere Freiheit. Besonders Petrus predigt aus dem Stegreif offensichtlich mit so einer Vollmacht, dass es den Umstehenden „durchs Herz ging“ (Apg. 2,37).
Zu den Zeiten war Jerusalem bereits eine Metropole, in der Menschen aus verschiedenen Kulturen lebten. Und die Leute, angelockt von diesem merkwürdigen Brausen, waren überrascht, denn sie hörten die Jünger in ihrer jeweiligen Muttersprache. Dass die Jünger keine Fremdsprache erlernt hatten, ist für den Heiligen Geist kein Hinderungsgrund. Der Geist der Vielfalt überwindet menschliche Grenzen und verbindet. Nichtsahnend sind die Jünger an diesem Morgen aufgestanden, und erleben die Geburtsstunde einer Bewegung, die man später ´Kirche` nennen wird. Am Abend dieses außergewöhnlichen Tages war der Funke des Heiligen Geists auf die Herzen von dreitausend Menschen übergesprungen und hatte sie zu einer Community verbunden.
Der Heilige Geist schenkt Klarheit, entzündet unsere Liebe - zum ersten oder zum wiederholten Male - und er verbindet Menschen.
Artenschutz für den Heiligen Geist
Wer verliebt ist, darf ein wenig durchgeknallt sein. Aber sein ganzes Leben an der Seite eines Durchgeknallten verbringen? So ist es auch mit der Kirche. Am Anfang ging es ein wenig drunter und drüber. Doch im 21. Jahrhundert hat das Christentum längst seine ungestüme, unberechenbare Seite domestiziert. Doch der Heilige Geist hat weiterhin Störpotenzial. Wie hält es die Kirche im aufgeklärten Europa also mit dem Heiligen Geist?
Genau heute vor 58 Jahren, am 1. Juni 1962, hielt Karl Rahner auf dem Katholikentag in Salzburg einen prophetischen Vortrag, den er unter 1. Thess. 5,19 stellte: Löscht den Geist nicht aus! Es ist die Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil. Traditionalismus drohte die Kirche zu ersticken. Hinter vorgehaltener Hand rumort es. Konventionen und Hierarchien werden hinterfragt. Ist die Kirche noch Hüterin der Glut oder längst Bewahrerin der Asche? Rückschauend wissen wir heute, dass das Konzil einige Jahre später frischen Wind in die Katholische Kirche brachte und das Verhältnis von Laien und Klerus neu bestimmte. Der Vortrag ist bei Herder in Form eines kleinen Buches erschienen, das ich über Pfingsten gelesen habe - in mancherlei Hinsicht ein Dokument seiner Zeit, aber er enthält auch einige zeitlose Abschnitte.
Das Spannungsfeld zwischen der Institutionalisierung der Kirche und den Charismen spürte der Apostel Paulus wohl schon zu seinen Lebzeiten. Bereits im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sah sich Paulus bemüßigt, der jungen Gemeinde in der griechischen Stadt Thessaloniki diese Ermahnung ins Stammbuch zu schreiben und den Heiligen Geist vor dem Erstickungstod zu retten. Denn offenbar war sich Paulus bewusst, dass es in unserer Macht steht, den Geist Gottes auslöschen. Jeder von uns persönlich ist dazu fähig, das Leben zu ersticken, etwa durch die Macht der Gewohnheit, die Trägheit unseres Herzens, durch Besserwisserei oder Ignoranz. Aber diese Ermahnung ist auch an die Kirche als Ganze gerichtet. Rahner kritisiert die „Hybris der Planbarkeit“ innerhalb der Institution Kirche, in der jegliches Charismatische droht unter die Räder zu geraten. Selbst in guter Absicht, einem zivilisatorischen Impetus folgend, können wir Räume des Daseins gottlos, leer und sinnlos machen. Oder im Gegenteil sie zum Leben erwecken, erneuern. Eine in Tradition verkrustete oder in Belanglosigkeit gefangene Kirche erinnert Rahner daran, dass der Geist weht, wo er will - auch in Erscheinungsformen, die ihr fremd sind. Es gibt Charismen, für die wir erst eine Sensibilität entwickeln müssen. In den Fresh Expressions of Church, den frischen Ausdrucksformen von Kirche bei den Anglikanern, zeigt sich etwa „the gift of not fitting in“. Sie verstehen darunter nicht nur das Gefühl, nicht so richtig in die bestehende Kirche hineinzupassen, sondern es ist eine Gabe, denn nur so konnten neue, experimentelle Formen christlicher Gemeinschaft entstehen.
Auch wenn die Kirche seitdem insgesamt experimentierfreudiger geworden ist, mahnen uns Rahner’s Worte auch 2020 selbstkritisch zu fragen: „Herrscht nicht zu viel Müdigkeit bei uns, zu viel bloße Routine? (…) Wissen wir eine Antwort, wenn einer uns fragt: Was wollt ihr Christen in den nächsten zehn Jahren konkret, was wollt ihr heute erreichen, was noch nicht ist, aber nach euch werden soll, und zwar hier und jetzt und nicht erst in der Ewigkeit? (…) Ist die Formulierung unseres christlichen Glaubens nicht zu traditionell, zu sehr aus zweiter Hand, zu wenig ursprünglich entspringend aus der ureigensten Erfahrung der Gnade und der Betroffenheit durch das eigentliche Wort Gottes? Wenn wir uns geistes- und sozialgeschichtlich vergegenwärtigen, in welchem Umbruch der Zeiten wir stehen, (…) müssen wir da nicht sagen, dass wir viel zu zögernd, nachhinkend, nur Stück für Stück uns durch die Tatsachen zwingen lassen, der Zeit doch hinterdreinzulaufen? Kurz und gut: Wo ist das mächtige, mutige, neuschaffende, selbstsichere Wehen des Geistes bei uns in der Kirche? (…) Wir leben in einer Zeit, in der es notwendig ist, im Mut zum Neuen und zum Unerprobten bis zur äußersten Grenze zu gehen.“
Wenn etwas nicht niet- und nagelfest, aber doch erfolgreich angebracht wurde, dann sagen wir: „Passt, wackelt und hat Luft“. Ein gutes Motto für die Kirche, finde ich. Luft ist die Leerstelle für den Heiligen Geist.
I can´t breathe
Zum Schluss denke ich an George Floyd. Sein Tod hat nichts mit Corona zu tun. Aber auch er starb am Kollaps des Atmungssystems. „Ich kann nicht atmen!“ rief der sterbende George Floyd, durch ebenso gnaden- wie geistlose Polizisten dem Erstickungstod ausgesetzt. Diese rassistische Tat ist niederträchtig und macht mich fassungslos und wütend. Mit George Floyd stirbt ein Christ, der - so berichten christliche Medien - für viele junge Männer aus seiner Community ein Vorbild an Integrität war. Mir stockt der Atem.
Seitdem gehen seine letzten Worte über den Globus; klagen Hass und Rassismus an, die sich in unserer Welt breit gemacht haben und an denen unsere Gesellschaften zu ersticken drohen. Und genau genommen erstickt noch viel mehr - etwa unsere Natur durch zu hohe Luftverschmutzung, Meerestiere an Plastik, Flüchtlinge im Meer auf der Suche nach Schutz und Perspektive. Es ist Zeit für einen Wandel - ganz besonders in den USA, deren Präsident mit seinem maßlos übersteigerten Ego und seinem Zorn die Spaltungen im Land und weltweit noch vertiefen. Im November wird gewählt, aber die Demokraten wirken so schwach, dass Trump womöglich allein dadurch eine zweite Amtszeit bekommen könnte.
Komm, Heiliger Geist, und wirke unter uns. Mit Freiheit und mit Macht, mit Liebe und mit Kraft.