Gehen oder bleiben?

Gehen oder bleiben?

Vor ein paar Tagen lernte ich bei einer Party zufällig Robert kennen. Ein interessanter Zeitgenosse, Digitalisierungsexperte in einem großen Chemie-Unternehmen. Ich fand es spannend, dass er einige Semester in Stanford studiert und sogar drei Jahre in China gelebt hatte. Beides habe sein Denken und seine Perspektive auf den digitalen Wandel sehr verändert. Wir sprachen über den Transformationsschub, den Digitalisierung bewirkt, über Rapid Prototyping, iterative Prozesse, Design Thinking, über die Spannungen zwischen Startup-Kultur und etablierten Unternehmen. Und schließlich über seinen Austritt aus der evangelischen Kirche vor drei oder vier Wochen. Er könne sich zwar mit den christlichen Werten voll identifizieren, hatte aber irgendwann genug davon, dass die Kirche schlicht keine Relevanz für ihn habe und es keine Berührungspunkte mit seinem Leben gab. Was er an Kirchensteuer einspare, spende er jetzt gezielt an gemeinnützige Organisationen. Und er meditiere mehrmals in der Woche! Mit Hilfe einer App. Und er fügte noch hinzu, dass er nach seinem Austritt einen freundlichen Brief von der Kirche bekommen habe, in dem man sich nach seinen Beweggründen erkundigt habe und ihm versichere, er sei jederzeit wieder willkommen. Die andere Fraktion sei da viel rigoroser und versuche Ausgetretenen ein schlechtes Gewissen zu machen - zumindest in katholischen Hochburgen.

Mich stimmt sein Austritt nachdenklich, ja traurig, wenngleich ich auch Verständnis für seine Beweggründe habe. Hinter jedem Exodus steckt eine individuelle Geschichte. Und doch ähneln sie sich. Warum bekam Robert erst einen Brief, nachdem er ausgetreten war? Warum wurde die Kirche nicht vorher aktiv, interessierte sich für Robert und versuchte mit ihm auf seiner Wellenlänge zu kommunizieren? Warum nimmt die Kirche in Kauf, dass sie sich mit ihren Mitgliedern auseinanderlebt, bis man sich nichts mehr zu sagen hat und der Austritt nur noch der letzte formale Schritt ist?

Solange die Kirche fast nur mit dem aktiven Teil ihrer Steuerzahler*innen kommuniziert und manche vielleicht sogar der Ansicht sind, dass die Übrigen in ihrer selbst gewählten Distanz am liebsten in Ruhe gelassen werden wollen, wird sie leicht als anonyme Riesen-Organisation empfunden, die gewiss Gutes tut, aber keinen persönlichen Mehrwert bietet. Wie wollen wir denn Mitglieder, die im kirchlichen Leben kaum in Erscheinung treten, gewinnen und bewegen Mitglied zu bleiben, wenn nicht durch Kommunikation? Der Pfarrer oder die Pfarrerin in der Kirche nebenan kann nicht alles richten, aber warum gibt es bspw. noch immer kein hochwertiges Mitgliedermagazin, das alle zwei Monate kostenfrei jedem evangelischen Haushalt zugestellt wird und Spotlights auf Menschen und Handlungsfelder der Kirche lenkt (wie z.B. BENE im Bistum Essen)? Es hätte gewiss weit mehr Leser*innen als nur Kirchenmitglieder. Und Reichweite ist heutzutage schließlich eine wichtige Währung.

Robert verließ die Kirche nicht aus finanziellen Gründen. Oder vielleicht doch? Sein Geld kommt jetzt Organisationen zugute, die unsere Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Will das die Kirche nicht auch? Nach wie vor ist sie der größte zivilgesellschaftliche Player und kann auf beeindruckende Leistungen sowohl in Nachbarschaften als auch auf der Makro-Ebene verweisen. So war z.B. die 1975 gegründete GEPA, hinter der fünf kirchliche Gesellschafter stehen, schon Vorreiter beim Thema Fair Trade, als sich nur eine aufgeklärte Minderheit für faire Handelsbeziehungen interessierte. Aber die Kirche hat offensichtlich Probleme, ihre die Zukunft gestaltende Power über den kirchlichen inner circle hinaus entsprechend darzustellen und gezielt Förderer für eine Vielfalt von Themen anzusprechen. Wäre Robert auch gegangen, a) wenn er gewusst hätte, welche positiven Dinge die Kirche mit seinem Geld finanziert (okay, das kann man in Erfahrung bringen, wenn man will – die Kirchenfinanzen sind im Internet transparent veröffentlicht); aber noch viel wichtiger: b) wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, seinen finanziellen Beitrag dorthin zu lenken, wo er ihn sinnvoll angelegt sieht? Bei Greenpeace kann man doch auch zwischen verschiedenen Kampagnen wählen und muss nicht nur an Greenpeace als Organisation spenden. Wir brauchen eine Beteiligungskultur m.E. auch bei den Kirchenfinanzen.

Über die Kirchensteuer hinaus denken

Sicher, die Kirchensteuer ermöglicht der Kirche eine große Planungssicherheit, wenngleich niemand genau prognostizieren kann, wie die Mitgliederentwicklung sein wird. Sie ist auch gerecht, weil sie sich prozentual an der Einkommensteuer bemisst. Aber „Steuer“ hört sich nun mal ziemlich unsexy an und wirkt patriarchalisch, denn ich kann mit meinem Geld nicht steuern, sondern muss das Steuern anderen überlassen.

Wäre es nicht Zeit, das System der Kirchensteuer durch die Möglichkeit freiwilliger Beiträge zu ergänzen; langfristig sogar zu ersetzen? Viele fürchten den finanziellen Shutdown. Ich glaube das nicht. Die Kirche würde agiler und ihr Angebot bedarfsorientierter. Um auf den Tag X vorbereitet zu sein, an dem die Kirchensteuer vielleicht Geschichte wird, könnte ein Wahlrecht eingeführt werden: Entweder mein Arbeitgeber führt weiter Kirchensteuer vom Gehalt ab oder ich zahle stattdessen einen Mitgliedsbeitrag auf Basis einer Selbstverpflichtung in Höhe der Kirchensteuer (je nach Bundesland 8-9% der Einkommensteuer).

Gleichzeitig empfiehlt es sich ein digitales Mitglieder-Management einzuführen, wie es in vielen Organisationen längst üblich ist. Jedes Kirchenmitglied würde Zugang zu einem Online-Account erhalten, in dem seine Daten hinterlegt sind. Standardmäßig wäre hier die Kirchensteuerpflicht definiert und die Kirchengemeinde am Wohnort als Empfänger der Kirchensteuer eingetragen. Jedes Mitglied bekäme jedoch die Wahl zwischen 1) Kirchensteuer oder freiwilliger Mitgliedsbeitrag, 2) örtliche Kirchengemeinde oder bis zu fünf andere evangelische Einrichtungen seiner Wahl. Das Mitglied könnte den Beitrag für jede Einrichtung selbst festlegen und den Einzug von seinem Konto erlauben.

Jede Einrichtung würde ebenfalls über einen Account verfügen und wäre digital mit ihren Mitgliedern vernetzt. Kirchliche Mitarbeiter*innen könnten so viel leichter als bisher mit jenen kommunizieren, die ihnen in der Gemeinde nicht über den Weg laufen - und umgekehrt. Für Koordinierungs- und Serviceaufgaben würde die Landeskirche von der Kirchensteuer 8 bis 10% einbehalten (das ist m.W. eine übliche Verwaltungspauschale in vielen Unternehmen) bzw. den Einrichtungen, die Mitgliedsbeiträge einnehmen, diese Pauschale in Rechnung stellen.

Mitglieder könnten eine Mitgliedskarte erhalten. Nennen wir sie „eCard“. Sie berechtigt zur Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts und zur Inanspruchnahme kostenloser Grundleistungen, z.B. der Bezug des Mitglieder-Magazins oder ein Gutschein für eine einstündige persönliche Beratung durch pastorale Mitarbeiter*innen. eCard-Inhaber*innen genössen weitere Vorteile wie z.B. die bevorzugte Vergabe von Plätzen in evangelischen Kitas, Rabatte bei Jugendfreizeiten oder bei Kursen der Erwachsenenbildung. Vielleicht hätte den Digitalisierungsexperten Robert ja mal ein (analoges) Retreat mit christlicher Meditation an einem besonderen Ort gelockt. Mitglieder, die sich über ihren finanziellen Beitrag hinaus durch Zeit- oder Geldspenden engagieren, könnten eine eCard+ bekommen, die ihnen weitere Vorteile eröffnet, z.B. Boni beim Abschluss von Versicherungen bei kirchlichen Gesellschaften, günstige Konditionen bei der Buchung christlicher Hotels oder exklusive Events mit besonderen Gästen.

Auch eine auf drei Jahre begrenzte Mitgliedschaft auf Probe und mit einem niedrigen Sockelbeitrag für Menschen, die sich dem Glauben annähern (vgl. altkirchliches Erwachsenenkatechumenat), ist denkbar. Oder eine Fördermitgliedschaft für Menschen, die kirchliche Arbeit unterstützen wollen, aber sich aus verschiedenen Gründen (noch) nicht zur Taufe entschließen können. Sie würden wie Mitglieder behandelt, könnten allerdings nicht wählen oder gewählt werden. Jährliche Empfänge für neue Mitglieder und für treue Mitglieder, die ein, zwei oder mehr Jahrzehnte dabei sind, könnten stattfinden.

Um unabhängiger von Kirchensteuer zu werden, gibt es natürlich noch ganz andere Wege, z.B. Einkünfte aus Immobilien. Was wäre, wenn die Kirche sozial-ökologische, intergenerative, gemeinschaftliche Wohnformen schaffen und darin einen Aspekt zukünftiger Gemeindearbeit sehen würde? Eine Gesellschaft, in der Einsamkeit ein immer größeres Thema wird, würde ihr dankbar sein.

Es geht nicht in erster Linie um Geld - es geht um Beziehungen. Eine Organisation, der ich mich verbunden fühle, unterstütze ich gern. Wir sollten alles unternehmen, was hilft, dass Menschen Beziehungen zur Kirche und zu Gott aufbauen können.

Vom Segen der Unerreichbarkeit

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ne(x)tchurch

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