Vom Segen der Unerreichbarkeit

Vom Segen der Unerreichbarkeit

Kürzlich durchwühlte ich meine Schreibtisch-Schublade und wurde zufällig auf meine Armbanduhr aufmerksam. Ich hatte sie vor Zeiten dort hineingelegt, weil ich ja ständig mein iPhone mit mir herumtrage, das mir jedes Mal die Zeit anzeigt, wenn ich es zur Hand nehme. 

Als ich das schöne, skandinavische Design der Uhr sah, verspürte ich auf einmal wieder Lust sie zu tragen. Es war fünf nach zehn, aber sie zeigte fünf nach elf an - also Sommerzeit. Ich drehte die Zeiger um eine Stunde zurück und freute mich, als ich die Uhr an meinem Handgelenk spürte. Als ich jedoch bei nächster Gelegenheit auf das Zifferblatt schaute, zeigte sie immer noch 10:05 Uhr an. Sie musste schon so lange im Dunkel der Schublade gelegen haben, dass die Batterie inzwischen schlapp gemacht hatte.

Ein wenig fühlen sich die Tage von Weihnachten bis Neujahr an wie diese Uhr: Die Zeit scheint still zu stehen. Nicht wirklich, aber ich erlebe sie als Quality Time. Denn unsere digital vernetzte Welt, in der wir always on sind und die während des ganzen Jahres den Takt vorgibt, schicken wir getrost in die Ferien. Wir lassen los und erlauben uns kollektiv offline zu gehen. So sieht ein souveräner Umgang mit der Zeit aus, wenn wir uns nicht knechten lassen von den unablässigen Versuchungen unseres Smartphones, das 24/7 um unsere Aufmerksamkeit buhlt. Diese Zeitsouveränität könnte ich öfter gebrauchen. Nicht nur, um Raum zu haben für Begegnungen und Beschäftigungen, die das Leben wertvoll machen.

Seit die Digitalisierung in unserer Welt Einzug gehalten hat und immer mehr unseren Alltag bestimmt, leiden Angestellte unter häufigen Unterbrechungen. Kaum erscheint eine neue E-Mail unten rechts am Bildschirmrand, öffnen wir sie neugierig. Gibt unser Smartphone, das wir neben der Tastatur abgelegt haben, einen Piepton von sich - sofort wendet sich ihm unser Blick zu. Wir lassen uns leichter ablenken und sind bei unserem Tun nicht ganz bei der Sache. Steigt im Allgemeinen die Produktivität durch Digitalisierung - hier liegen Produktivitätsverluste, warnen Arbeitsforscher. Und Studien belegen, dass sich eine zunehmende Digitalisierung der Schulen angeblich negativ auf Lernprozesse und -ergebnisse auswirkt.

Ich muss an ein Zitat des katholischen Theologen Johann Baptist Metz denken, der zu seinen Lebzeiten nichts von unserer digitalisierten Welt ahnte. Er sagte: “Religion ist die kürzeste Definition für Unterbrechung”. Ist seine Erkenntnis im Zeitalter der Digitalisierung obsolet?

Bei der Suche nach Antworten führt meiner Ansicht nach eine Spur zu Weihnachten. An diesem höchsten christlichen Fest erinnern wir uns an die Geburt Jesu Christi vor mehr als zweitausend Jahren. Generationen vor uns sahen dieses unscheinbare Ereignis in einem Stall von Bethlehem als so starke Zäsur an, dass sie unsere heute gültige Zeitrechnung auf das (vermutete) Jahr, in dem Gott in Christus Mensch wurde, begründeten. Weihnachten feiern wir in gewisser Weise also eine Unterbrechung.

Im 21. Jahrhundert ist diese Unterbrechung durch die “Stille Nacht” vielleicht das größte Geschenk, das Gott uns zu Weihnachten machen kann. Denn die Weihnachtszeit, in der wir uns seit dem 25. Dezember befinden, verhilft uns in wohltuender Weise innerlich zur Ruhe zu kommen und unseren inneren Kompass neu auszurichten. Thank God für diese Zwischenzeit! Thank God für diese ganz andersartige Unterbrechung, die nichts mit den Unterbrechungen digitaler Endgeräte gemein hat, die wir ständig mit uns herumtragen.

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