ne(x)tchurch
Ich lebe von Herzen gern in Berlin. Hier sind Veränderungen mit den Händen zu greifen. Durch das Bevölkerungswachstum von 50.000 Menschen jährlich seit 2010 werden vorhandene Brachflächen nach und nach bebaut. Gerade sie boten in den zwei Jahrzehnten nach der Wende Freiräume für Experimente und machten den Berlin-Spirit aus. Dennoch übt die deutsche Hauptstadt bis heute eine hohe Anziehungskraft auf junge Leute, Entrepreneure und Kreative aus und ist dieStartup-Metropole Deutschlands. Diversität, Globalität und ein reichhaltiges kulturelles Leben tragen zu einer hohen Lebensqualität bei und bilden zusammen mit einem engmaschigen Gewebe von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen einen perfekten Nährboden, auf dem neue Ideen gedeihen. Das Crossover der Lebenswelten inspiriert und bringt Innovation hervor. In Berlin zählt Individualität; hier darf jeder anders sein. Der permanente Zu- und Wegzug von Menschen hält die Stadt agil und sorgt für Dynamik. Wie es sich anfühlt, irgendwo neu anzufangen, ist tief im kollektiven Gedächtnis der Berliner*innen verankert, und so ist Berlin open-minded. Und sie sind sich dessen bewusst, dass auch sie nur einer Minderheit angehören, wie es für jeden melting pottypisch ist. Das zieht interessante gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Wertediskurse nach sich. Deshalb gilt die Stadt als Zukunftslabor für gesellschaftliche Transformation und hat ein junges Image.
Berlins ständig brodelnde Unruhe fördert auch theologische Produktivität und macht sie zu einem idealen Laboratorium für Kirchenentwicklung. Neue Sozialformen des christlichen Glaubens entstehen. Allerdings gilt dies im Hinblick auf die Evangelische Kirche bislang nur in einem eingeschränkten Maß. Bedauerlicherweise interessierte sich die hiesige Landeskirche lange Zeit kaum für ´dritte Orte` und unterschätzte ihr innovatives Potenzial. Sie überließ es weitgehend Freikirchen oder missionarischen Bewegungen aus dem In- und Ausland, die Kirche neu zu erfinden und zu experimentieren. Seit einiger Zeit aber freue ich mich über andere Töne aus der Kirchenleitung.
Gehen oder bleiben?
Wohl spätestens bei der EKD-Synode 2018 (Schwerpunktthema „Der Glaube junger Menschen“) wurde vielen schmerzlich bewusst, dass insbesondere junge Erwachsene der Kirche den Rücken kehren. Die Gründe für deren Exodus sind vielfältig: Die Kirchensteuer spielt vordergründig eine Rolle, aber es ist in erster Linie die mangelnde Relevanz der Kirche und des Glaubens für die eigene Lebensgestaltung. Eine zweite Gruppe traut der Kirche nicht mehr zu, dass sie den durch die fortschreitende gesellschaftliche Ausdifferenzierung notwendigen Wandel bewältigt – und diese resignierten Stimmen gibt es auch bei jungen Erwachsenen, die sogar bei der Kirche arbeiten. Drittens sind auch einige unter ihnen, die bei uns womöglich nicht die kreativen Freiräume vorfanden, die sie suchten, und die mit der vorherrschenden Kultur in der Kirche fremdelten.
Die Aufbrüche in der Kirchenentwicklung werden im Wesentlichen von den 20- bis 39jährigen getragen. Doch junge Leute sind zunehmend ungeduldiger und wollen nicht mehr warten, bis die Kirche sich bewegt. Diese Haltung gibt manchmal Anlass zur Klage bei der Generation der Babyboomer. Dennoch bekümmert dies junge Leute kaum – ihr Credo lautet (ich bediene mich hier Worten des Berliner Sängers Peter Fox): Hey, wenn’s Dir nicht gefällt, mach neu! [1] Und so entstanden seit inzwischen gut zwei Jahrzehnten soz. in den Vorhöfen des Tempels eigene Formen, die der Lebenswelt junger Leute entsprechen. Also Kirche neu erfinden – doch ist das nicht vermessen? Und geht das überhaupt, mit 500 und mehr Jahren Geschichte im Gepäck?
Ja, es geht. Sogar erstaunlich gut, denn die mir bekannten frischen Ausdrucksformen von Kirche lassen im Kleinen viel von dem wiedererkennen, was Kirche in ihrer langen Geschichte theologisch erarbeitet und an spiritueller Erfahrung und gesellschaftlicher Prägekraft ausgezeichnet hat. Es kommt nicht darauf an, ob sie etwa „die hippere“ oder „die bessere Kirche“ sind, sondern sie verstehen sich selbst als Zwerge, die auf den Schultern eines Riesen sitzen. Sie erfinden ja keine neue Institution, sondern diese kleinen transforming communitiessind exemplarisch Kirche: Gewachsen auf reformatorischer Theologie, inspiriert vom Geist der frühen Christen, gepaart mit unternehmerischer Leidenschaft, mit Klarheit hinsichtlich der eigenen Identität, mit Kompetenz für den Kontext und mit Sensibilität für das, was Menschen suchen. Sie ersetzen nicht die bisherige Kirche, sondern erweitern das Spektrum der Erlebnisräume des Glaubens – für all jene, die eine Kirche suchen, die zu ihrem Lebensstil passt. Menschen finden Zugänge zum Glauben, die mit all dem bislang keine Berührung hatten. In allen finden wir mehr oder weniger die Prinzipien von fresh expressions of church(FXC) – jenem Wunder der Kirchenentwicklung aus der Anglikanischen Kirche.
Im Spannungsfeld zwischen gewachsenen und neuen kirchlichen Formen
Natürlich gibt es auch in unserer Kirche Innovation, doch in Deutschland sind die wenigsten FXC auf kirchliche Initiative oder mit kirchlicher Unterstützung entstanden. Dies führt unweigerlich zur Frage der Verhältnisbestimmung zwischen der Institution Kirche und den neuen Sozialformen christlichen Glaubens. Bisweilen herrscht ein weitgehendes Nebeneinander des Riesen und der Zwerge oder sogar bewusste Abgrenzung vor. Grundsätzlich bewegen wir uns hier in ein Spannungsfeld hinein, das jede Organisation kennt, die in Veränderungsprozessen steckt.
Unter den Ecclesiopreneurenist so mancher, der einst aktiv in der Evangelischen Jugend mitmischte, dann aber nicht über den garstigen Graben zwischen Jugendkultur und konventioneller Kirchengemeinde springen wollte. Es stimmt mich traurig, dass sie sich von uns abgewendet haben, weil wir ihnen nicht das bieten konnten, was sie suchten. Nun können wir aber die eigenständigen FXC nicht einfach als ´kirchliche Startups` bezeichnen, denn dies wäre vereinnahmend. Obwohl einige Gemeindegründungen besonders im Osten Deutschlands ´Kirche` selbstbewusst im Namen tragen, z.B. die Junge Kirche Berlin, Projekt:Kircheoder mittendrin – Kirche für Potsdam [2]. Andere hingegen vermeiden die Nähe zur Kirche wie der Teufel das Weihwasser, weil sie partout nicht mit Tradition assoziiert werden wollen. Am Gebrauch des Labels ´Kirche` scheiden sich offenbar die Geister. Es gibt also vieles, über das Kirche und FXC reden könnten.
Sind FXC dennoch das Licht am Ende des dunklen Jammertals, ausgelöst durch den Exodus junger Leute aus der Kirche? Vielleicht wäre schon eine kleine, aber durchaus bemerkenswerte Geste der Anerkennung seitens der Evangelischen Kirche, dass in den FXC innovative Kirchenentwicklung unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts geschieht und man dort etwas lernen kann. Der nächste Schritt wäre folgerichtig, die Entstehung von explizit evangelischen FXC (ich nenne sie NEO = Neue evangelische Orte) als Chance für unsere Kirche und die Zukunft des Glaubens zu betrachten. Dann sind zwei Szenarien denkbar: 1) Die Evangelische Kirche schafft einen innovationsfreundlichen Rahmen, beginnt NEO als Ergänzung der konventionellen Strukturen aktiv zu fördern und bewusst Menschen dafür zu qualifizieren. 2) Sie sendet jenen bereits entstandenen FXC, die sich selbst als reformatorisch und kirchennah verorten, keiner anderen ACK-Kirche angehören und sich als NEO eignen würden, Signale des Willkommens. Dann gälte es Fragen zu klären wie:
Durch welche Art der Vereinbarung bzw. Zusammenarbeit kann ein wertschätzendes Miteinander von zwei eigenständigen Partnern wachsen, durch die beide Seiten lernen, und im besten Sinne evangelische Vielfalt sichtbar werden?
Worin bestünde der Mehrwert für beide Seiten? Ist Teilhabe an kirchlichen Ressourcen einerseits und ein jüngeres Image für die Kirche andererseits ein gutes, vielleicht sogar ausreichendes Tauschgeschäft?
Welche theologischen und ekklesiologischen Qualitätsstandards zeichnet ein NEO aus? Wäre die Kirche bereit auch theologische Qualifikationen anzuerkennen, die nicht an einer Theologischen Fakultät einer staatlichen Universität erworben wurden?
Wie sähe ein Verfahren aus, mit dessen Hilfe FXC die kirchliche Anerkennung als NEO erhalten könnten, aber ihre Autonomie weitgehend erhalten?
Welche Pflichten, welche Rechte wären für beide Seiten damit verbunden?
Wodurch käme die Kirchenzugehörigkeit der einen NEO besuchenden Personen am angemessensten zum Ausdruck?
Wenn die Kirche die Gründung von NEO strategisch fördern würde, dann müsste sie auch darüber nachdenken, wie sie Erneuerung in bestehenden Strukturen anstoßen kann. Dann tauchen z.B. folgende Fragen auf:
Wie sähe ein innovationsfreundlicher Rahmen aus, um Gründung oder Erneuerung anzustoßen? Wie kann Intrapreneurship [3] so im System verankert werden, damit es tatsächlich wirksam ist?
Woran erkennt eine Kirche, welches (Gemeinde-)Pferd schon tot ist, das sie noch reitet? Wann lohnt sich also Erneuerung in bestehenden Strukturen und wann ist es zu spät?
Verstärken NEO nicht den Druck auf die konventionellen Gemeinden?
Ist die Gründung konfessionell geprägter kirchlicher Startups überhaupt noch zeitgemäß oder müssten sie nicht eigentlich ökumenisch sein?
Wie sähe eine Anschubfinanzierung aus? Nach welcher Zeit und anhand welcher Kriterien entscheidet sich, ob aus einem Projekt im Rahmen eines Erprobungsraums eine nachhaltige Form wird oder ob es endet?
Dann nähern wir uns langsam der mixed econonmy, die in der Anglikanischen Kirche seit einem Beschluss der Bischöfe 2004 Programm ist. FXC, die seitdem entstanden, sind den Gemeinden mit z.T. jahrhundertelanger Geschichte gleichgestellt. Nach nunmehr 15 Jahren hat der Beteiligungsgrad in den FXC quantitativ die klassischen Gemeinden überholt.
Beispiel: Refo-Campus Moabit
Wie es in Deutschland gehen könnte, lässt sich an der Geschichte des Refo-Campus im Berliner Stadtteil Moabit ablesen – ein Leuchtturm der jüngeren Kirchengeschichte. 2011 startete an der etwas mehr als einhundert Jahre alten Reformationskirche ein neues Projekt – Ausgang ungewiss. Zuvor hatte die Landeskirche hier Anfang des Jahrtausends „das Licht ausgemacht“. Die Gemeindearbeit war vollständig zum Erliegen gekommen. Zum Gottesdienst in der einst für tausend Menschen gebauten Kirche kam zum Schluss kaum mehr als eine Handvoll Menschen.
Ideen und Träume sind unablässig auf der Suche nach Frei- bzw. Verwirklichungsräumen, und so zog die einige Jahre leerstehende Kirche eine Handvoll junger Erwachsener an, unter ihnen einige Theologinnen und Theologen. Sie gründeten einen Verein, überzeugten die Landeskirche ihr das Gebäude zur Verfügung zu stellen und schafften es mit viel „Blut, Schweiß und Tränen“ dem Ort eigenverantwortlich Schritt für Schritt neues Leben einzuhauchen. 2015 wurde klar: Das ist kein Projekt mehr. Das Entstandene hat die Kraft nachhaltig zu bestehen. So schlossen der Verein und die Landeskirche einen Erbbaurechtsvertrag. Heute steht der Refo-Campus, zu dem Kirche, Projekthaus, Wohnungen und ein frisch renovierter Kindergarten gehört, exemplarisch dafür, dass Auferstehung möglich ist – frei finanziert, ohne kirchliche Personalstellen. Sein Angebot ist ein Fingerabdruck des Sozialraums. Er hat als Ort christlicher Spiritualität, der Bildung, der Kultur, des bezahlbaren Wohnens in Gemeinschaft und der interkulturellen bzw. interreligiösen Begegnung weit über Moabit hinaus Ausstrahlung entwickelt.
NEO spiegeln den Wandel zur Netzwerkgesellschaft wider
Eine aktuelle Studie des Edelman Trust Barometers, die jährlich in 33 Ländern durchgeführt wird, stellt dar, dass sich das Vertrauen in Institutionen und ins Establishment weltweit auf einem historischen Tiefpunkt befindet. Dies ist normale Folge der seit Jahrzehnten spürbaren Individualisierung, die wir einerseits begrüßen und die uns ein nie gekanntes Maß an Freiheit gebracht hat, andererseits aber den Bedeutungsverlust von Institutionen beschleunigt und zu einem Gefühl wachsender Unübersichtlichkeit beiträgt.
NEO wären Ausdruck des Wandels zur Netzwerkgesellschaft. Netzwerke sind keine Erfindung der Digitalisierung. Im sozialen Miteinander spielten sie schon immer eine Rolle. Mit der Digitalisierung jedoch wächst ihre Bedeutung, denn die technologischen Möglichkeiten begünstigen selbstorganisierte und selbstgewählte Netzwerke und verändern Kommunikationsgewohnheiten und Kultur. Netzwerke sind fluid und wenig festgelegt, immer in Bewegung. Sie sind wie Prototypen, haben vielleicht nur einen vergleichsweise kurzen Lebenszyklus. Sie sind dezentral und kennen im Unterschied zu Institutionen keine Ämter oder hierarchische Leitung. Menschen agieren in ihnen als Personen auf Augenhöhe. Wir schließen uns ihnen auf informellem Wege an oder verlassen sie wieder ohne großen Aufwand. Geteiltes Wissen und gemeinsames Erleben sind zentrale Ressourcen von Netzwerken. NEO wären charakterisiert durch eine Kultur des Willkommens bzw. eine Kultur der Gastfreundschaft. Come as you are.
Kennzeichen vitaler Systeme: Agilität
Vor einigen Jahren bemühten Kirchenleitungen gern die Wachstums-Metapher und ermutigten die Pfarrer*innen zum „Wachsen gegen den Trend“. Die Kritik [4] ließ nicht lange auf sich warten: Diese Zielvorgabe erzeuge Druck und führe ins Burnout. Vielmehr bräuchten Pfarrer*innen Freiräume, damit sich ihre oft unter Arbeitsdruck verschüttete Kreativität entfalten kann [5]. Gleichwohl gab es damals in Deutschland Gemeinden, die gegen den Trend wuchsen, und auch heute gibt es wachsende Gemeinden. Bei 32 von ihnen schaute man genauer hin und erforschte die Ursachen [6]. Die Untersuchung lenkte den Blick über mögliche äußere Voraussetzungen zum inneren mindset, damit Wachstum potenziell möglich ist. Dies kommt am besten im Begriff Agilität zum Ausdruck.
Agilität meint Beweglichkeit. Der Begriff tauchte erstmals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Systemtheorie auf und wurde durch den amerikanischen Soziologen Parsons geprägt. Er beschreibt ursprünglich die Funktionen, die ein System erfüllen muss, um seine Existenz zu erhalten. Die moderne Managementtheorie definiert Agilität als Kultur, Haltungen und Methoden, mit denen Unternehmen und Organisationen sich schnell an veränderte Rahmenbedingungen anpassen und Veränderungen managen können.
Agile Unternehmen begreifen den Wandel aus Normalfall. Sie fördern Kompetenzen bei Mitarbeiter*innen, damit sie proaktiv, antizipativ und initiativ agieren, um Veränderungen herbeizuführen. Eine agile Kultur ist geprägt von Transparenz und Dialog, Vertrauen und Wertschätzung, Fehlerfreundlichkeit und einem Umgang auf Augenhöhe. Agile Organisationen zeichnen sich durch einen mitarbeiterzentrierten Führungsstil und eine teambasierte Ablauforganisation aus, in der Teams Verantwortung übertragen, Partizipation gefördert und Netzwerkdynamik stimuliert wird. Iterative Prozesse helfen schnell auf Veränderungen der Kundenwünsche oder des Marktes reagieren zu können. Iteration bedeutet in der Produktentwicklung: Vorwärtsgehen in kleinen Schritten, mit Zwischenergebnissen an den Markt gehen und das Produkt in weiteren Schleifen optimieren.
Agile Systeme passen ideal zur Netzwerkgesellschaft. Agilität ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal etwaiger NEO. Denn es gibt auch klassische Gemeinden mit langer Geschichte, die sich auf dem Weg dorthin befinden oder bereits agil sind. Gemeinsam ist beiden Sozialformen des Glaubens, dass sie fragen, beten und intuitiv erspüren, was Menschen brauchen. Das gelingt meistens dort, wo sie selbst Teil des Kontextes sind, Menschen mit Offenheit und echtem Interesse begegnen und mit ihrer Lebenswirklichkeit vertraut sind. NEO und agile Gemeinden verstehen sich als learning communitiesund lernen induktiv. Sie stoßen lieber kleine Dinge an, improvisieren und bessern nach anstatt große Konzepte zu entwerfen, die nur mit großem Aufwand realisiert werden können. Sie leben Vielfalt und öffnen Freiräume zum Experimentieren. Sie streben nach Qualität, aber Leidenschaft, Authentizität und Begegnung sind ihnen wichtiger als perfekte Programme. Sie haben ein weites Herz und ein großzügiges Wesen. Sie lieben Ästhetik und haben ein Gespür für Sprache und Raumgestaltung.
Ein Zukunftsbild der Kirche
Es deutet derzeit nichts darauf hin, dass sich der Bedeutungsverlust von Institutionen umkehren lässt. Davon geht auch die Freiburger Studie vom Mai 2019 aus, die einen fortschreitenden und an Tempo zunehmenden Rückgang der Kirchenmitgliederzahl bis 2060 prognostiziert. Die Kirche der Zukunft wird weniger institutionell geprägt sein als vielmehr aus einem Verbund selbständiger, agiler NEO und agiler klassischer Gemeinden bestehen. Sie werden sich durch vielfältige Profile auszeichnen – in Abhängigkeit von den jeweiligen Akteuren und Kontexten, in den sie agieren.
Dieser Verbund wird der Architektur des World Wide Webs ähneln und vielfältig sein. Austausch und Kommunikation gelingen, indem man sich auf bestimmte Standards einigt. Erkennbar wird die Marke ´Evangelisch` selbstverständlich auch zukünftig durch reformatorische Theologie, aber nicht wie bisher durch Institution, Mitgliedschaft und Kirchensteuer, sondern zunehmend durch gemeinsame Standards, Anschlussfähigkeit und Crowdfunding. Aber es gibt keine übergreifende Steuerung, weil sich Netzwerke weitgehend selbst regulieren. Stattdessen übernehmen Hubs (Knotenpunkte) zentrale Funktionen.
Kirche in der Netzwerkgesellschaft ist, soweit die Netzwerke reichen. Netzwerke sind die kirchlichen Resonanzräume der Zukunft. Dies führt mich zu der Wortschöpfung ´ne(x)tchurch`. Der Rückbau der Institution und der gleichzeitige Aufbau der neuen kirchlichen Architektur z.T. in den Ruinen der Institution werden sich voraussichtlich noch über Jahrzehnte hinziehen. Spannungen sind dabei zu erwarten. Change-Management ist die Kunst die Energie dieser Spannungen in Synergien umzuwandeln.
Flexibilisierung der Kirchenmitgliedschaft
Agile Systeme sind Kristallisationspunkt für ein wachsendes Netzwerk von Kontakten. Attraktivität und die Chancen auf längerfristige Bindung nehmen zu, je durchlässiger die Grenzen zwischen den kirchlichen Sozialformen und der eigenen Lebenswelt sind, Partizipation möglich ist und für die Gäste ein persönlicher Nutzen entsteht. Beziehungen sind das Bindemittel in dynamischen Netzwerken. Auf der Ebene von Beziehungen kann aus temporären Begegnungen ein längeres Verweilen und irgendwann vielleicht eine intensive Bindung an das ´Netzwerk Kirche` entstehen, die dann vielleicht mit Taufe und Kircheneintritt einhergeht. Doch bis dahin ist der Weg i.d.R. lang, und dies sollte auch nicht als Ziel oder Erfolgskriterium definiert werden. Außerdem ist das traditionelle Modell der Kirchenmitgliedschaft Netzwerken von Natur aus eher fremd, wenngleich auch nicht ausgeschlossen.
Daher braucht die oben skizzierte ´ne(x)tchurch` auch ein flexibleres Modell der Kirchenzugehörigkeit und der finanziellen Mitverantwortung. Erfolgreiche FXC übernehmen nach einer Phase der Anschubfinanzierung von außen ein wachsendes Maß an finanzieller Selbstverantwortung und Autonomie. Dieses Prinzip sollte auch bei NEO gelten. Die Kirche stellt für einen gewissen Zeitraum eine Anschubfinanzierung zur Verfügung, die nach und nach sinkt, um die finanzielle Selbstverantwortung zu fördern. Alle, die sich an der Finanzierung ihres NEO beteiligen, zählen zur Evangelischen Kirche ohne kirchensteuerpflichtig zu sein. Der Beitrag obliegt der Selbsteinschätzung. Richtschnur könnten 1,5 % des Netto-Einkommens sein. Die kirchliche Verwaltung führt ein separates Register, in dem die Daten dieser ´Fördermitglieder` erfasst werden, stellt ihnen eine Mitgliedskarte und jährliche Zuwendungsbestätigungen aus. Fördermitglieder erhalten das aktive und passive Wahlrecht für kirchliche Gremien und können somit auch kirchenpolitisch Einfluss nehmen. Ein Wechsel von der Fördermitgliedschaft in die reguläre Kirchenmitgliedschaft und umgekehrt ist jederzeit möglich. Welche Form der Mitgliedschaft gilt, ist abhängig vom rechtlichen Status der jeweiligen Sozialform, der sich jemand anschließt: In klassischen Gemeinden, die durch Kirchensteuer finanziert werden, gilt die reguläre Kirchenmitgliedschaft inkl. Kirchensteuerpflicht; in frei finanzierten NEO gilt die Fördermitgliedschaft ohne Kirchensteuerpflicht.
Perspektiven
Die Evangelische Kirche muss also weit über ihre bisherigen Strukturen hinausdenken. Gleichwohl sind hoffnungsvolle Ansätze bereits erkennbar. Es fehlt aber noch Klarheit über das Zukunftsbild der Kirche und Mut zur Umsetzung. Möge diese Skizze die Diskussion anregen. Viele der aufgeworfenen Fragen sind noch offen und bedürfen einer angemessenen Bearbeitung. Dies wäre durch die Schaffung eines Hubs bzw. Inkubators möglich. Hub bezeichnet einen Knotenpunkt in einem IT-Netzwerk. Sie werden verwendet, um Geräte miteinander zu verbinden. Solche Knotenpunkte brauchen wir auch in der ´ne(x)tchurch`, die sich z.B. schon in den Erprobungsräumen der Evangelischen Kirchen in Mitteldeutschland und im Rheinland oder in der ökumenischen Bewegung Kirchehochzwei, an der die Ev.-luth. Landeskirche Hannovers beteiligt ist, andeutet. Ein Hub wäre der geeignete Ort, um den Change zu gestalten, eine innovationsfreundliche Kultur zu fördern und einen Andockpunkt für potenzielle Gründer*innen und Erneuerer zu schaffen. Ein Hub verbindet Netzwerktheorien aus Informatik und Soziologie mit der Gemeindeentwicklung. Es würde die Kirche in der Startup-Kultur erkennbar machen. Noch hat die Kirche finanzielle Gestaltungsspielräume – nutzen wir sie, solange wir noch können!
(Dieser Text erschien in der AMD-Fachpublikation “Brennpunkt Gemeinde” Nr. 6/2019)
[1] Textzeile aus Peter Fox: Alles neu (2008)
[2] ´Kirche` wirkt selbst in einer mehrheitlich säkularen Umgebung seriöser und unverdächtiger als etwa: Ein Projekt der Inlandmission des Bundes Freier evangelischer Gemeinden.
[3] Während Entrepreneure Unternehmer sind, die etwas neu aufbauen, bringen Intrapreneure Innovation innerhalb eines bestehenden Unternehmens oder einer Organisation voran. Sie brauchen dafür entsprechende Freiräume und ein klares Mandat der Leitung.
[4] Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010
[5] Hier deckt sich interessanterweise der Bedarf von Pfarrer*innen mit dem Wunsch junger Erwachsener!
[6] Wilfried Härle u.a.: Wachsen gegen den Trend, Leipzig 2008