Sichtbar werden

Corona hat weite Teile unserer Welt in atemberaubendem Tempo zum Stillstand gebracht. Krass. Auch wenn es durch die behördlich verordnete Kontaktsperre gelingen sollte, die Ansteckungskurve flach zu halten, wird unser Leben dennoch nach Aufhebung der gegenwärtigen Einschränkungen ein anderes sein. Die Konturen zeichnen sich nur schemenhaft ab, aber ich glaube nicht, dass wir zur Normalität zurückkehren, die uns vertraut war – und falls doch, dann wird der Weg dahin lang sein. Eins steht allerdings jetzt schon fest: Der Bedarf an Videokonferenzen dürfte über Jahre gedeckt sein ;-)

Das Virus zwingt uns global zum Innehalten und unsere Prioritäten tiefgreifend zu überdenken. Zwar versucht die Politik die wirtschaftlichen Folgen der Krise gerade mit den bewährten Mitteln zu bekämpfen, zu denen sie sich auch in der Finanz- und der darauf folgenden Eurokrise entschieden hat, aber die Schuldenlast wird uns noch lange auf den Schultern liegen. Vielleicht ist es aber auch so, dass Corona zu einem jähen Ende des Turbokapitalismus führt, der uns zwar im letzten Jahrzehnt satte Gewinne beschert hat, aber den Planeten gleichzeitig immer mehr in Richtung Kollaps brachte. Zwar bezeichnen wir unsere Lebensweise schon seit geraumer Zeit als postmateriell und wissen eigentlich auch, das Geld zum Well-being nur unwesentlich beiträgt – dennoch haben wir einen unglaublich hohen und steigenden Ressourcenverbrauch, der etwa 1,5mal so groß ist wie die Erde sich regenerieren kann.

Gewinner dieser Krise könnte also die Gemeinwohl-Ökonomie sein. Ökosystem statt Ego-System. Noch ist ihre Lobby klein, aber immer mehr Menschen hegen bspw. Zweifel an unserem weltweiten Finanzsystem, das sich schon lange von der Realwirtschaft abgekoppelt hat und letztlich die Krise sogar verschärft. Wir sehen jetzt auch, dass das Gesundheitssystem – zum Glück hat Deutschland ein sehr gutes – nur in sehr begrenztem Maße privatwirtschaftlich organisiert werden sollte.

Matthias Horx hat am 16. März eine “Re-Gnose” (das Gegenteil von Prognose) gepostet und fügt jetzt in der Krise fast täglich neue Beiträge hinzu. In diesem Post stellt er die These auf, dass durch Corona Solidarität wiedererwacht, aber ich frage mich, was von dieser spontanen Solidarität auf lange Sicht Bestand haben wird. Die Kirche ist vielleicht die letzte gesellschaftliche Großorganisation, die in der Lage wäre, Solidarität in fast in jedem Winkel der Republik nachhaltig zu organisieren. Aber wohl nur wenige denken beim Stichwort Solidarität zuerst an die Kirche, obwohl es vielleicht nur eine moderne Übersetzung von Nächstenliebe ist. Die Kirche könnte eine eindrucksvolle Gemeinwohl-Bilanz aufweisen, aber sie hat sich bisher dieses Instruments nicht bedient bzw. keine eigenen qualitativen Instrumente entwickelt. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt für einen Perspektivenwechsel gekommen, die Statistik des kirchlichen Lebens, die maximal Insider interessiert, zu einer gemeinsamen Gemeinwohl-Bilanz von Kirche und Diakonie mit signifikanter Außenwirkung weiterzuentwickeln - eine “Bilanz der Nächstenliebe”. Wie super wäre es, wenn nicht mehr der Rückgang der Mitgliederzahl die Schlagzeilen bestimmen würde, sondern die Medien stattdessen über das immaterielle Sozialkapital berichten würden, das die Kirche mit den Mitteln derjenigen erwirtschaftet, die ihre Arbeit entweder durch Mitgliedsbeiträge oder durch Spenden ermöglichen.

Noch erscheint die Kirche ungeübt darin, den Nutzen, den sie zweifelsohne weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus für die Gesellschaft als ganze erbringt, aktiv und attraktiv zu kommunizieren. In unserer zunehmend funktionalistisch ausgerichteten Welt habe ich den Eindruck, dass viele Menschen Glaube und Religion für „nice to have, but not necessary“ halten. Ich befürchte, nur die wenigsten könnten beschreiben, was der Gesellschaft fehlen würde, wenn die Kirche marginalisiert oder es sie gar nicht mehr geben würde. Wenn wir dieser Haltung nichts entgegensetzen, erwarte ich als Folge der Rezession, die aus der Coronakrise resultiert, einen noch massiveren Rückgang der Kirchensteuer als ohnehin schon prognostiziert.

Defätistisch zuzusehen, wie das Unvermeidliche eintritt und die finanzielle Basis der Kirche erodiert, kann nicht die Strategie sein. Die Kirche muss über den Kreis ihrer aktiven Mitglieder hinaus um Sympathie werben. Sie muss plausibel verdeutlichen und in berührender Weise erzählen, worin der konkrete Mehrwert ihrer Arbeit für die Menschen im Gemeinwesen besteht – im gesellschaftlichen Maßstab bis hinunter in einzelne Sozialräume. Das wird nicht leicht in unserer medial umkämpften Welt, in der sich viele Menschen Schutzschilde angelegt haben, um nicht der Informationsflut zu erliegen.

Ob die Kirchensteuer noch eine zukunftstaugliche Finanzierung ist, wird vor diesem Hintergrund dieser Prognose für mich auch fraglicher. Die Steuer galt zwar lange als Stabilitätsfaktor für die Planung kirchlicher Arbeit, aber diese Stabilität scheint doch zunehmend abzuschmelzen wie ein Eisberg bei 20° Außentemperatur (wie jüngst in der Antarktis zu beobachten). Dem Sozialkapital ist die Herkunft des Geldes, mit dem es erwirtschaftet wurde, letztlich egal. Es kann aus Kirchensteuereinnahmen kommen oder aus Förderbeiträgen von Nicht-Mitgliedern. Nur müssen wir aktiver um sie werben. Beziehungen sind das A&O.

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