Theologie und Technologie: Auch ein garstiger Graben?
Um die Ausbreitung der Corona-Infektion zu verhindern, sind auch Gottesdienste untersagt. Infolgedessen hat eine ganze Reihe von Theologen und Theologinnen begonnen, ihre Predigten ins Netz zu stellen und über die sozialen Medien zu verbreiten. Die Resonanz auf die meisten ´digitalen Newcomer` ist verhalten, und die Qualität ihrer Clips war bereits Anlass zu kontroversen Diskussionen im Netz und in Printmedien und zu Spott und Häme bei denen, die schon länger in der Netzgemeinde unterwegs sind.
Ja, alle Welt wird Zeuge, wie manche ihre ersten Gehversuche auf für sie digitalem „Neuland“ unternehmen, was de facto bereits ziemlich ausgetretenes Terrain ist. Trotzdem versuche ich es positiv zu sehen, denn diese durch Corona verursachte Ausnahmesituation setzt ein überraschend hohes Maß an Kreativität und Improvisationsfähigkeit frei. Sie ermutigt auch Leute jenseits der digital affinen Szene, die digitalen Instrumente, die eigentlich schon lange verfügbar waren, endlich auszuprobieren und sich autodidaktisch anzueignen. Ich bin zuversichtlich, dass die ´digitalen Nachzügler` in wenigen Monaten die Spielregeln der digitalen Welt schon weitaus besser beherrschen als heute und zu den Anderen aufschließen werden.
Die aktuelle Offenheit für und Unbefangenheit im Umgang mit Digitalisierung sollten wir daher als Kairos begreifen und begrüßen, um jetzt endlich agile Formen der Zusammenarbeit innerhalb der Kirche umfassend und nachhaltig zu implementieren. Jene kirchlichen Mitarbeiter*innen und im Besonderen die Führungskräfte, die zwar dem digitalen Wandel grundsätzlich positiv gegenüberstanden, aber bislang wenig Gebrauch von digitalen Arbeitsumgebungen gemacht haben, müssen jetzt auf neue Formen der Zusammenarbeit eingestimmt werden und sie erproben. Wir brauchen jetzt digitale Kongresse, mit deren Hilfe wir lernen, wie kollaborative Zusammenarbeit funktioniert und und die zu einem engeren Miteinander von längst bestehenden Netzwerkstrukturen von ´Change-Agents` und Institution führen.
Agile Zusammenarbeit konnte man exemplarisch beim Hackathon, der maßgeblich von den Jugenddelegierten der EKD-Synode innerhalb von nur zwei Wochen organisiert und schließlich am ersten Aprilwochenende mit rund 750 Interessierten durchgeführt wurde, erleben. Der Hackathon war attraktiv für jene, die sich auf der Mikro- bis zur Makroebene mit Themen der Kirchenentwicklung befassen. Das Event hat eindrücklich gezeigt, dass die Musik in selbstorganisierten, hierarchiefreien Netzwerken von ´Agenten des Wandels` spielt und zeichnete sich durch ein hohes Maß an Produktivität aus. Innerhalb von 48 Stunden wurde eine Vielzahl von Ideen zu mitunter qualitativ anspruchsvollen Konzepten weiterentwickelt. Der Hackathon diente also als Inkubator für Prozesse der Kirchenentwicklung.
In vielen Unternehmen und Organisationen beklagen Führungskräfte, dass ihre Steuerungsmöglichkeiten immer begrenzter werden. Neuere Studien beschreiben eine tiefgreifende Krise der Institutionen. Peter Kruse, Gründer von nextpractice, schreibt in seinem bereits 2004 erschienenen Klassiker der Managementliteratur „Erfolgreiches Management von Instabilität“: „Zukunftsfähige Organisationen sind in der Lage, auf die wachsende Komplexität und Dynamik einer vernetzten Außenwelt mit einer Kultur zu antworten, in der eine Vernetzung der internen Strukturen jederzeit selbstverständlich möglich ist. Der härteste Erfolgsfaktor ist ausgerechnet der weiche Faktor der Unternehmenskultur. (…) Für die Zukunft wird offenbar eine nächste Stufe der organisatorischen Intelligenz erforderlich: die Bildung von horizontalen, hierarchiefreien und bereichsübergreifenden Netzwerken, in denen Einzelne und Teams in freier Dynamik miteinander kooperieren.“
Der Hackathon ist ein Beispiel für derartige Netzwerkintelligenz. Ob die Ergebnisse solcher Events aber den Weg in kirchliche Entscheidungsprozesse hinein fanden, war bislang oft dem Zufall überlassen. Netzwerke und Institution lebten oft in friedlicher Koexistenz. Wie wäre es, wenn die Kirchenleitungen beginnen würden, sich selbst stärker auf die Spielregeln der Netzwerke einzulassen anstatt an ihrer konventionellen und oft behäbigen Gremienarbeit festzuhalten? Eine Aufgabe von Kirchenleitung könnte darin bestehen, solche digitalen Plattformen mit einem hohen Grad an Beteiligungsmöglichkeiten zu initiieren und in regelmäßigen Abständen kollaborativ ausgerichtete digitale Events zu veranstalten, um Netzwerkaktivität zu stimulieren. Jede*r könnte unabhängig von seiner Position in kirchlichen Hierarchien partizipieren, Themen setzen oder sich an Diskussionen beteiligen. Gleichwohl sind Experten, die in kirchenleitender Ebene tätig sind, in der Lage Dialoge zu lenken. So könnten im Sinne von #glaubengemeinsam (Motto des Hackathon) Prozesse von Kirchenentwicklung ausgelöst und begleitet werden. Regelmäßig veranstaltete „Digital Summits“ bieten sich an, um das Blickfeld kirchenleitender Gremien zu weiten, Kompetenzen aus dem Netzwerk abzurufen und für die Weiterarbeit verwertbare Zwischenergebnisse in deutlich kürzerer Zeit zu generieren, als wir es aus konventioneller Gremienarbeit gewöhnt sind.
Mit diesem Wandel von der Institution Kirche zur Netzwerkkirche ginge auch eine Veränderung der Rolle von Führungskräften einher: Von der Kontrolle und Steuerung hin zum Schnittstellenmanagement sowie zur Ermöglichung und Moderation von Transformationsprozessen mit Hilfe digitaler Plattformen. Systemische und digitale Kompetenzen wären Voraussetzung, um eine Führungsposition ausüben zu können. So würde Schritt für Schritt auch der Wandel im Selbstverständnis z.B. von einem ´Amt` zu einem zentralen Knotenpunkt (Hub) in einer Netzwerkarchitektur gefördert.