Wandel im Stillstand

Wandel im Stillstand

Ich bin großer Fan von Edward Hopper (1882-1967). Die Bilder des amerikanischen Malers ziehen mich magisch an. Derzeit öffnen viele Museen und Galerien ihre Tore digital, u.a. die Fondation Beyeler in der Nähe von Basel. Seit Ende Januar zeigt sie Hoppers Landschaftsmotive. Wim Wenders hat sogar exklusiv für diese Ausstellung einen Film gemacht. Der Film ist zwar nicht im Netz verfügbar, aber ich konnte einige Kunstwerke bei einer digitalen Führung zu Gesicht bekommen. 

Wie kein Zweiter verstand es Hopper die Einsamkeit der Moderne und des sinnentleerten Lebens im 20. Jahrhundert in ihren vielen Facetten darzustellen. In die melancholische Stimmung des Mannes am Tresen kann ich mich seit meiner ersten Begegnung mit seinem Bild „Nighthawks“ gut einfühlen. 2013 konnte ich das Original im Whitney Museum in Manhattan bestaunen. Hopper malte seine Nachteulen inmitten des Zweiten Weltkriegs, genau wie „Gas“. „Gas“ zeigt eine Tankstelle im Amerika der Vierziger Jahre. Die Mitte des Bildes wird dominiert durch das kräftige Rot und die ästhetische Form der Tanksäulen. Ein einsamer Tankwart - übrigens mit Krawatte! - wartet auf Kundschaft. Die Dämmerung zieht schon herauf. Die Lage der Tankstelle gegenüber eines großen, dichten, bedrohlich wirkenden Waldes lässt sie wie einen Außenposten der Zivilisation in der Wildnis erscheinen, und auch die schmale Straße lässt vermuten, dass hier nicht viele Autos vorbeikommen. Einzig das warme Licht, das aus dem Kassenhäuschen auf diese surreale Szene fällt, machen das Bild ein wenig heimelig. Das Bild ist der Star in der Baseler Ausstellung. 

Eine Zeit der Einsamkeit kann eine sehr produktive Phase sein. Mönche zogen sich in Einsiedeleien zurück, um Gott näher sein zu können, und viel großartige Kunst entstand nur durch Melancholie. Aber in unserem durch Corona verordneten Rückzug stellt Einsamkeit eine echte Herausforderung für viele Menschen dar. Menschliche Nähe dürfen wir nur teilen, mit wem wir zusammen in einem Haushalt wohnen. Freunde sehen und Verwandte besuchen ist streng genommen tabu. In vielen deutschen Städten sind Single-Haushalte in der Mehrzahl. Spitzenreiter ist überraschenderweise nicht Berlin, und auch nicht Frankfurt, München oder Köln, sondern Regensburg mit gut 56% Single-Haushalten. Nun sagt die Statistik nicht unbedingt etwas darüber aus, ob ein allein wohnender Mensch tatsächlich im Beziehungsstatus Single lebt oder wie intensiv er bzw. sie sozial vernetzt ist. Dennoch: Menschliche Nähe, ausgedrückt durch Umarmungen, liebevolle Gesten oder gemeinsame Erlebnisse, ist durch Corona zu einem kostbaren Gut geworden. Free Hugs starben im März 2020 plötzlich aus. 

Zwar gibt es viele Wege, um dennoch miteinander zu kommunizieren und einander durch Worte nahe zu sein: Telefon, Messenger, Social Media, Video-Calls und vieles mehr. Doch so sehr es die digitalen Möglichkeiten erleichtern, über Entfernungen miteinander in Kontakt zu bleiben: An die Qualität echter menschlicher Begegnungen reichen die glatten Oberflächen nicht heran. Unsere Monitore und Touchscreens berühren letztlich nicht. Wir sind nicht konstruiert, um alleine zu sein oder den ganzen Tag auf Bildschirme zu schauen. Unsere Sehnsucht nach echter Nähe wächst von Woche von Woche, und die Rufe nach Lockerungen werden lauter. Wann wird die Stimmung kippen?

Die coronabedingten Einschränkungen führen uns vor Augen, dass es nicht ausreicht, lediglich unsere Gedanken und Gefühle miteinander zu vernetzen. Es geht vielmehr um körperliche Nähe. Um Nähe zu spüren, brauchen wir die reale Dreidimensionalität. Martin Grunwald, Psychologe an der Uni Leipzig, erklärt (im „Freitag“, Ausgabe 17/2020): „Nahe sein heißt für ein Säugetier, den dreidimensionalen Körper auch dreidimensional wahrzunehmen. Dies lässt sich nur durch den Körperkontakt erfahren. Fällt der über einen längeren Zeitraum weg, ist das wie ein neuronaler Leerlauf.“ Kontaktlosigkeit oder Einsamkeit können uns Menschen also krank machen oder die Entwicklung bei Kindern hemmen. Eine Berührung, erklärt der Psychologe, löse hingegen einen komplexen biochemischen Prozess im Körper aus. Er sorgt für ein wohliges Gefühl, reduziert Stress und intensiviert die emotionale Bindung zwischen zwei Menschen.

Die Indizien verdichten sich, dass zwischen der Corona-Pandemie und dem Klimawandel ein kausaler Zusammenhang besteht. Womöglich ist der Verlust von Nähe, unter dem wir derzeit leiden und der unsere Art zu leben einschneidend verändern wird, solange es keinen Impfstoff gibt, ein Spiegelbild für unsere Entfremdung vom Ökosystem Erde. Der Aufschrei der Schöpfung hat uns nicht berührt - wie der stumme Schrei in dem berühmten Bild des norwegischen Malers Edvard Munch. Wir wollten nicht hören, wie schlecht es der Erde geht. Jetzt spüren wir am eigenen Leib, dass viele von uns in unserer technologiegetriebenen und funktionalen Welt ihr Sensorium für natürliche Zusammenhänge verloren haben. Die Entfremdung von der Natur hat nun in gewisser Hinsicht menschliche Entfremdung zur Folge. Die Schöpfung hält uns einen Spiegel vor und ermahnt uns zur Buße - eine Haltung, die aus der Mode gekommen ist. Doch auch dem Letzten wird nun bewusst, dass wir ein Teil dieses Ökosystems sind. Der historisch beispiellose, globale Shutdown innerhalb weniger Tage hat quasi zu Zero Emission geführt und lässt die Erde aufatmen. Lufthansa befördert derzeit 1% der sonst üblichen Menge an Passagieren. Was für die Wirtschaft dramatisch ist, ist ein Segen für die Luft- und Wasserqualität. Im Bosporus, im Stadtgebiet der 20-Millionen-Metropole Istanbul, sollen Delfine gesichtet worden sein, die sich dort schon Jahrzehnte nicht mehr haben blicken lassen. 

Es wirkt fast so, als würde die Erde ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, nachdem in den letzten fünf Jahrzehnten unzählige Klimawissenschaftler, aber auch Prominente wie der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore ihre Stimme weitgehend vergeblich für den Schutz und Erhalt unserer natürlichen Ressourcen erhoben haben. Vor nunmehr bereits 48 Jahren veröffentlichte der Club of Rome seinen weltweit beachteten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“. Zweifelsohne ist das ökologische Bewusstsein seit 1972 gewachsen, aber es konnte dem steigenden Ressourcenverbrauch keinen Einhalt gebieten. Die Menschheit lebt so, als hätten wir 1,5 Erden zur Verfügung. Auch ich habe - obwohl mir ein nachhaltiger Lebensstil seit mehr als drei Jahrzehnten am Herzen liegt - insbesondere durch Fernreisen über meine Verhältnisse gelebt. Zwar habe ich meinen CO2-Ausstoß durch Spenden für Aufforstungsprogramme kompensiert. Das mag mir persönlich ein gutes Gewissen verschaffen, ist jedoch vergeblich, wenn auf der anderen Seite riesige Waldbrände wüten oder Regenwald weiter abgeholzt wird, weil die Politiker den Klimawandel leugnen. Und auch in Deutschland geht es dem Wald nicht gut. 

Hätten Politik und Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten so auf die Klimawissenschaftler gehört wie sie jetzt die Empfehlungen der Virologen umsetzen, dann wäre uns Corona eventuell erspart geblieben. Wir haben nicht gehört - nun müssen wir fühlen. Das Alte Testament berichtet vom Propheten Elia, der dem ungerechten Herrscher Ahab, der sein Herz Gott gegenüber verstockt hatte, eine Plage ankündigte (vgl. 1. Kön. 17). Was beherrscht uns heute? Ist es nicht unser materialistisches System mit dem unbedingten Zwang zum Wachstum? - Die Krise wird uns (hoffentlich) lehren in Zukunft maßvoll mit dem umzugehen, was uns anvertraut ist. 

Zukunft entsteht in Krisen, heißt es. Doch wer setzt sich jetzt an die Spitze der Bewegung, die die Weichen stellt für die Zukunft? In der zurückliegenden Woche fand - als eine der wenigen politischen Veranstaltungen in diesem Frühjahr - der Petersburger Klimadialog statt. Dass er nicht ausfiel, werte ich als Zeichen, dass die Bundesregierung dem Kampf gegen den Klimawandel zukünftig einen hohen Stellenwert beimessen wird. Es ist unabdingbar, dass wir nicht einfach zu der Form von Ökonomie zurückkehren, die durch Corona ihr jähes Ende fand, sondern beim Restart den sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft zum Maßstab machen. Auch in der säkularen Nachhaltigkeitsszene ist vielen Menschen bewusst, dass eine Änderung von Systemen und Lebensweisen ein Wandel der inneren Haltung vorausgehen muss; also eine Transformation des Herzens. Ich lese gerade ein Buch des MIT-Professors Otto Scharmer, in dem er Wege vom Ego-System zum Ökosystem beschreibt. Scharmer wuchs auf einem der ersten Demeter-Höfe auf, die es in Deutschland gab, ist mit der Anthroposophie vertraut, und vertritt die These, dass die gesellschaftliche Transformation, die nötig ist, ohne spirituell-kulturelle Motivation nicht möglich sein wird. Mich erinnert dieser Gedanke an einen Bibeltext, den wir im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums nachlesen können. Dort beschrieb Jesus diesen Paradigmenwechsel einst im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus mit den Worten: „Ihr müsst von Neuem geboren werden“. Jesus ist das Bild dieses neuen Menschen. Der neue Mensch hält Einzug in unsere Herzen, wenn wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen. Er lässt das Gute in uns wachsen, stark werden und reifen. Es wäre daher gut, wenn die führenden Köpfe der Weltreligionen die Politik durch ein gemeinsames, kraftvolles Wort für einen neuen, maßvollen Lebensstil und einer am Gemeinwohl orientierten Ökonomie unterstützen würden. Außer der Stimme von Papst Franziskus vernehme ich da bisher leider wenig.

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