Alles im Lot
„Die wollen keine Kunden hier! Der Service ist unterirdisch. Die brauchen mal eine Kommunikationsschulung, wie man grundsätzlich mit Kunden umgeht.“ - Bewertungsportale boomen. Das Internet als Waffe des enttäuschten Kunden. Erst das Netz hat den Wutbürger hervorgebracht. Der Pizzeria klarmachen, dass sie ihr Geld nicht wert ist. Auf tripadvisor die Nachwelt warnen, weil das Hotelzimmer miserabel geputzt war. Schnell mal nachlesen, ob die Kamera zum Schnäppchenpreis wirklich etwas taugt. Und lässt Du Dich bei Deinen Kaufentscheidungen von den Bewertungen im Netz beeinflussen? Hast Du schon einmal im Internet eine Bewertung hinterlassen?
Der Mensch bewertet - bewusst oder unbewusst. Und ist den Bewertungen Anderer ausgesetzt. In der Schule gibt es Noten. Als Chef muss ich die Leistungen meiner Mitarbeiter bewerten. Oder im Vorstellungsgespräch herausfinden, ob die Bewerberin persönlich und fachlich wohl den Anforderungen für die ausgeschriebene Stelle gewachsen ist. Da begegnen wir einem Menschen zum ersten Mal und schon versuchen wir diese Person aufgrund ihres Äußeren in Sekundenschnelle einzuordnen: Wie kleidet die sich? Wie lange war der denn schon nicht mehr beim Frisör? Ups, da ist ein kleiner Fleck auf dem Hemd. Gab wohl mal wieder Spaghetti in der Kantine … So geht das schon seit Menschengedenken in unserem Kopf!
Und heute? Die Digitalisierung beschleunigt unsere Kommunikation, vergrößert ihre Reichweite und gesellschaftliche Streitthemen werden ungefilterter und immer emotionaler ausgetragen. Allein vorm Rechner zu sitzen verleitet scheinbar so manchen zu ungehemmten, hässlichen Kommentaren in den sozialen Medien. Oder ist unsoziale Medien der passendere Begriff? Ein Post, tausendfach geteilt, kann einen Shitstorm entfachen; Cybermobbing Teenager in tiefe Seelennot stürzen. Klar: Wir rufen nach mehr Medienkompetenz. Regeln für den Umgang im Netz.
Lukas 6, obwohl fast 2.000 Jahre alt, bietet solche Guidelines. Keine in Stein gemeißelten Gesetze, sondern gesättigtes Erfahrungswissen. Seid barmherzig miteinander - analog wie digital. Geht gnädig miteinander um - in den sozialen Medien als auch in der Kohlenstoffwelt. Die Liebe sei der Maßstab - im virtuellen wie im realen Leben.
Irgendwie klingt das aber doch wie ein Softi-Appell für mehr Gutmenschentum, oder? „Nun seid doch mal barmherzig!“ - Das geht hier rein, und da wieder raus. Und ist auch nicht das, worauf Jesus abzielt. Denn auf den ganzen Satz kommt es an: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Gott erweist uns zuerst seine tiefe Freundlichkeit. Wer einmal erlebt hat, wie er uns die Last von unseren Schultern nimmt; wie Leichtigkeit ins Leben zurückkehrt, der wird den Vers nie mehr als Appell betrachten, sondern als Befreiung.
Dieser Vers 36 eröffnet eine Serie guter Empfehlungen. Am Anfang geht es um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Die Beziehung zu Gott ist die Achse, um die sich unser menschliches Leben dreht. Es erinnert mich ein wenig an das erste Gebot, das lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Gottes Liebe ist die Grundlage, damit sich menschliches Leben entfalten kann. Diese Beziehung; diese vertikale Ausrichtung muss stimmen - dann ist das gesamte Leben im Lot.
Vers 36 weist auf die Quelle von Barmherzigkeit: Wir finden sie bei Gott. Denn von allein fehlt uns meistens die Kraft zur Barmherzigkeit. Unsere Geduld ist begrenzt. Unser Bemühen allen immer respektvoll und barmherzig zu begegnen mag hier und da gelingen - aber an diesem umfassenden Anspruch werden wir doch irgendwann scheitern. Erst wenn wir uns für Gottes Gegenwart öffnen und seine Güte selbst erfahren, kann seine Barmherzigkeit in unserem Herzen wachsen. Wenn wir die Beziehung zu Gott suchen, können wir barmherzig mit uns selbst und mit Anderen umgehen. Lasst Euch anstecken von seiner Barmherzigkeit. Nehmt Euch ein Beispiel an der Gnade Gottes.
Die nächsten vier Aussagen entfalten die erste Empfehlung. Jetzt wechselt die Ebene, denn sie beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Zunächst spricht Jesus zwei Warnungen aus: Richtet nicht. Verdammt nicht. Jesus kennt unsere Versuchungen; unsere heimlichen Gedanken, unsere schnelle Zunge, die scharf sein kann wie ein Schwert. Unsere Worte sollen Menschen nicht zugrunde richten; vielmehr sollen wir aufrichten und ermutigen. Wir dürfen uns nicht anmaßen Andere in Schubladen zu stecken oder in herablassender Weise über sie unser Urteil zu sprechen. Vielmehr sollen wir ihnen auf Augenhöhe begegnen.
Nur nicht richten und verdammen erscheint mir dennoch wie ein Minimalkonsens. Da fehlt noch was. Manch einer meint, es gibt im Leben nichts geschenkt. Meine Erfahrung ist eine andere: Leben entfaltet sich oft dann, wenn sich einer riskiert; wenn einer mehr als nötig in die Waagschale wirft. Ist es nicht so: Nicht, was wir uns kaufen können, sondern unverdientes Glück löst die meiste Freude aus. Deswegen folgen auf den Minimalkonsens zwei Tugenden: Geben und Vergeben. Seid großzügig, so wird man Euch auch großzügig behandeln. Teilt miteinander. Schenkt, weil ihr selbst von Gott beschenkt wurdet. Übt Nachsicht. Seid fehlerfreundlich. Rechnet niemand seine Schuld zu. Benennt die Sünde, aber achtet den Sünder. Ermahnt in Liebe. Geht in Vorleistung, wenn Ihr etwas verändern und die Welt zu einem besseren Ort machen wollt. Dies alles sind Interpretationen von Geben und Vergeben.
Jesus will Menschlichkeit in uns entzünden und fragt, woher wir unsere Maßstäbe des Menschlichen nehmen. Wenn ich ständig glaube zu kurz zu kommen oder Angst habe von Anderen übervorteilt zu werden; wenn meine Tür für unangemeldete Gäste verschlossen bleibt oder ich nicht darauf vertraue, dass genug für alle da ist, dann wird es kalt in unserer Gesellschaft. Doch echtes Leben ist mehr als nur eine seelenlose Kosten-Nutzen-Rechnung; als technokratisches Messen, Wiegen, Zählen.
Deswegen klopft Jesus heute selbst wie ein Gast an unsere Herzenstür und fragt: Bist Du bereit den ersten Schritt zu tun? Dem Rad des Vergleichens und Bewertens in die Speichen zu fallen? Der Verheißung zu trauen und aus dem Boot der Sicherheiten auszusteigen? Wer sich an Gott orientiert und ihn zum Maßstab nimmt, der durchbricht das Muster von „Wie Du mir, so ich Dir“. Der sammelt Meilen, nicht etwa weil er Vielflieger ist, sondern weil er die Extra-Meile mitgeht (nachzulesen bei Mt. 5,41). Der hält die andere Wange hin (Mt. 5,39). Ja, Gott mutet uns was zu! Aber er traut uns auch etwas zu! Er gibt uns die Kraft es anders zu machen. Durch uns soll ein neuer Geist in die Welt kommen - sein Geist! Wir sollen einen Unterschied machen, indem ich dem Anderen Raum gönne und seine von Gott verliehene Würde respektiere. Damit beginnt übrigens jede Form von Zivilisation. Zivilisation ist im Kern Nächstenliebe. Und die resultiert aus der Einsicht: „Wie Gott mir, so ich Dir“. Gottes Liebe, die zur Nächstenliebe wird, ist also der Motor für Zivilisation. Christinnen und Christen erkennen im Nächsten Gottes geliebtes Geschöpf. Da hat Ausgrenzung keinen Platz mehr. Da hört jede Feindschaft auf. Mit Nächstenliebe darf, ja muss vielleicht sogar Politik gemacht werden.
Teil 2: Mal ehrlich!
Kommen wir zum zweiten Teil des Bibeltextes (wer ihn nachlesen will, scrolle einfach nach unten). Es geht darin um unsere Fähigkeit zu sehen. Manchmal sehen wir Dinge und blenden sie bewusst aus. Wir wollen sie nicht sehen! Anderes können wir nicht sehen, obwohl es vor Augen ist. Jesus beginnt mit einem Gleichnis. Er erzählt von zwei Blinden. Einer will dem Anderen den Weg weisen. Er gibt vor das zu können. Doch er überschätzt sich selbst. Er gaukelt dem Anderen etwas vor. Das ist gefährlich. Denn der Andere kann es nicht überprüfen. Er sieht ja nichts. Er muss darauf vertrauen, dass sein Begleiter die Wahrheit erzählt. Sie tasten sich gemeinsam vorwärts, doch am Ende treten beide ins Leere und stürzen in eine Grube. Einer reißt den Anderen mit in den Abgrund - aus lauter Eitelkeit. Ich glaube, Jesus erzählt diese Geschichte, weil es ihm um Ehrlichkeit geht. Bin ich eine ehrliche Haut? Habe ich eine realistische Selbsteinschätzung oder spiele ich den starken Mann, die starke Frau, die die Zügel in der Hand hält - egal was kommt? Natürlich - viele von uns wollen nach den Sternen greifen. Doch neige ich zu Größenwahn, stehe in der Versuchung gesehen, ja bewundert werden zu wollen? Sattheit ist eine Sünde, aber Unersättlichkeit auch. Jesus sagt: Suche das rechte Maß! Bleib bei der Wahrheit. Opfere die Wahrheit nicht Deiner Eitelkeit! Wahrheit - nicht nur damals ein kostbares Gut, sondern auch in heutigen Zeiten.
Der zweite Teil des Textes stellt uns die Frage: Wer bist Du? Welche Motive treiben Dich an? Bin ich ein Mensch, der dazu neigt, sich zu überfordern und letztlich auch Andere? Nochmal: Jesus will, dass wir ehrlich sind. Jesus braucht nicht die Macher, sondern die wissen: Ich bin unvollkommen, aber seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Die Reich Gottes bauen, nicht ihr eigenes. Ein jeder prüfe sich selbst.
Teil 3: Ich sehe was, was Du nicht siehst!
Zur Ehrlichkeit gehört auch den eigenen blinden Fleck wahrzunehmen. Natürlich ist es leichter Anderen zu sagen, was für sie gut ist. Schließlich sehe ich doch, wo der Andere falsch liegt; wo er oder sie schuldig ist. Ich sehe was, was Du nicht siehst - nämlich den Splitter in Deinem Auge. Nun könnte man einwenden, es sei doch gut Anderen zu helfen den Pfad der Erkenntnis zu finden. Wäre da nicht das Problem mit der eigenen Betriebsblindheit. Mein toter Winkel. Schuld schränkt unser Blickfeld ein - oft mehr, als uns das bewusst ist. Und führt oft dazu, dass wir das, womit wir bei uns selbst im Unreinen sind, auf Andere projizieren. In Widerständen, die in mir aufsteigen, begegnet mir nicht selten mein alter ego, mein verborgenes Ich, meine nicht aufgearbeiteten Verfehlungen. Die Wut, die ich verspüre und gegen Andere richte, oder die Vehemenz, mit der ich Dinge bei Anderen einfordere oder bekämpfe, sagt häufig zuerst etwas über mich selbst aus. Im Verborgenen wirken Verletzungen nach, haben Erfahrungen und Erlebnisse ein merkwürdiges, zerstörerisches Eigenleben entwickelt. Aber dafür bin ich blind. Will und kann uns der Heilige Geist nicht auch durch unseren Zorn und unsere Aggression anstupsen, einen Fingerzeig Gottes senden? Mensch, merk mal was!
Wenn Jesus hier von Splitter und Balken im Auge erzählt, dann stellt er klar: Er ist der Augenarzt. Niemand sonst ist in der Lage die Füße eines Menschen auf den Pfad der Erkenntnis zu lenken; also Menschen wieder in rechter Weise sehend zu machen. Jesus hat eine sanfte, aber klare Art uns zu lehren. Niemals würde er uns von oben herab belehren oder übereifrig unsere Schuld aus dem Verborgenen ans Tageslicht zerren. Dafür ist er viel zu sehr und im besten Sinne des Wortes Seelsorger. Er schaut uns mit Augen der Liebe an. Er kann das, weil er der einzige ist, der frei ist von Schuld. Und weil er die Kraft hat das Unerlöste in uns zu erlösen. Deswegen können wir Menschen es leichter annehmen, dass wir Lernende sind. Es ist ein Trugschluss zu glauben, wir hätten schon alles gecheckt. Wir tun gut daran zu erkennen, dass wir Vergebung brauchen, weil wir Menschen, ja weil wir unvollkommen sind. Wir sind Menschen, die noch auf dem Weg sind. Wir sind Pilger zur Ewigkeit. Unser Glaube ist niemals fertig. Er ist immer Stückwerk; er ist immer im Werden. Wer bei Jesus in die Schule geht, lernt vor allem eins: Demut. Sich genügen lassen. Und bekommt ein weites Herz. Verletzungen dürfen heilen, wenn wir sie Jesus hinhalten und sie von ihm berühren lassen.
(Dieser Text war ursprünglich eine Predigt aus dem Sommer 2019. Und hier noch der Bibeltext des Evangelisten Lukas, Kapitel 6, Verse 36-42)
Vom Umgang mit dem Nächsten
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister. 41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.