Licht im Tunnel

Licht im Tunnel

37,2

Für mich war der Dienstag bereits im gewissen Sinne ein Tag der Befreiung, als ich nämlich beim Frisör war und von meinem ´Kopfschmuck` befreit wurde. Zurück in der Zivilisation. Während es von Obelix heißt, er sei als Kind in einen Topf mit Zaubertrank gefallen, scheine ich unbemerkt in einen Topf mit Haarwuchsmittel eingetaucht zu sein - mit dem Ergebnis, dass meine Haare nach nunmehr acht Wochen kaum mehr zu bändigen waren. Und der Frisör war so nett auch gleich mein Portemonnaie von zu viel unnötigem Ballast zu befreien: Er nahm mir 37,2% (!) mehr Geld ab als bei meinem letzten Besuch vor dem Lockdown. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass die Preise steigen, denn Mindestabstand einhalten heißt weniger Kunden auf gleicher Fläche. Aber das war dann doch etwas krass. 

Wahrscheinlich werden wir uns noch an weitere empfindliche Preiserhöhungen gewöhnen müssen, v.a. in der Gastronomie. Und einen Tisch beim Lieblings-Italiener zur Primetime zu ergattern, könnte uns künftig einiges an Geduld abverlangen. Vielleicht wird der spontane Restaurantbesuch sogar zur Ausnahme und muss stattdessen von langer Hand geplant werden. Schauen wir mal, wie viel Lebenszeit wir demnächst in Warteschlangen verbringen, solange es noch keinen Impfstoff gibt.  

Zwischen Überfluss und neuer Genügsamkeit

Unter die Stimmen, die ein Zurück zur Überflussgesellschaft für überflüssig halten und sich stattdessen für nachhaltiges Wirtschaften und nachhaltigen Konsum stark machen, hat sich eine weitere Prominente eingereiht. Am 8. Mai erschien ein Kommentar von Miriam Meckel in der NZZ. Ihr Leben auf der Überholspur führte vor gut einem Jahrzehnt geradewegs in den Crash. Während sie damals nach den Gründen für ihren Burnout forschte, erkannte sie, dass Gier sie zu diesem ungesunden Lebensstil verleitetet hatte, und übte eine Haltung der Genügsamkeit ein. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrung, die man in einem Buch nachlesen kann, wirken ihre Gedanken umso eindringlicher. Ihr erscheint unsere gesamte Gesellschaft „wie auf Speed“, und Corona wie der kollektive Burnout, der uns zum Innehalten und zur Neuorientierung zwingt. Nur immer weiter das Tempo zu steigern, war schon vor Corona fragwürdig. Jetzt gilt es umso mehr eine Antwort auf die Frage nach dem Wozu, nach dem “higher purpose” zu finden. Ihr Bezug zur Völlerei, eine der biblischen Todsünden - in heutiger Sprache: Maßlosigkeit -, ist aus meiner Sicht treffend.

asap

Immer in der ersten Maiwoche trifft sich die digitale Avantgarde in Berlin zu ihrem Klassentreffen, der re:publica. „As soon as possible“ - „So bald wie möglich“ lautete das diesjährige Motto. Es steht durchaus im Kontrast zu Miriam Meckels Plädoyer für eine neue Nachdenklichkeit und für Entschleunigung. Damit niemand aus der Community Entzugserscheinungen erleiden musste, wurde die re:publica kurzerhand ins „digitale Exil“ verlegt und fand an einem der drei ursprünglich vorgesehenen Tage statt. Die Präsenzveranstaltung soll im August nachgeholt werden. Allerdings ist unklar, ob dann schon wieder Kongresse in der Größenordnung von mehreren hundert Leuten stattfinden können, und vor allem ist die Frage ungelöst, wie groß der Flächenbedarf sein wird, wenn zwischen den Teilnehmenden 1,50 Meter Abstand eingehalten werden muss.

Wie ein ursprünglich als Präsenzveranstaltung geplanter Kongress in ein voll digitales Format verändert werden kann, konnte man nun bei der re:publica miterleben. Irgendwie fand ich es beruhigend, dass selbst bei der “Mutter aller Digitalkonferenzen” nicht alles perfekt lief. Die re:publica sollte um 11:30 Uhr beginnen, doch um 11:40 Uhr flimmerte immer noch „coming soon“ über den Bildschirm, was im Chat bereits zu lustigen Kommentaren führte. Das Programm war eindrucksvoll, doch die Übergänge waren etwas holprig - ein Indiz für das Fehlen einer übergeordneten Regie. So tat sich manchmal minutenlang nichts auf dem Bildschirm. Dennoch habe ich eine ganze Reihe guter Interviews gesehen und inspirierende Impulse bekommen, z.B. von Jutta Allmendinger oder von Richard Sennett. Interessant war auch die Session der Berliner Stadtreinigung, die ihre Mitarbeiter-App vorgestellt haben. 

An Beteiligungsmöglichkeiten bot die re:publica die sog. „Deep Dives“, also Video-Chats im Anschluss an eine Session, und die Möglichkeit zu informellen Begegnungen auf dem „Hof“. Dennoch war man über weite Strecken einfach nur Zuschauer und Zuhörer. Mir persönlich sind zehn Stunden Programm am Stück zu lang. Kleinere Dosen wären verträglicher, aber das mag die Generation Netflix vielleicht anders empfinden. Obwohl dies wahrscheinlich die re:publica mit der größten Reichweite war, spürte man so allein in seinem Homeoffice nicht so sonderlich viel vom Zauber der Community. Der Erlebniswert digitaler Kongresse kann an eine Präsenzveranstaltung nicht heranreichen. Einen Mehrwert kann ein digitaler Kongress aber darstellen, wenn Teilnehmende sich beteiligen können, z.B. indem sie in selbstorganisierten kleinen Arbeitsgruppen Ideen austauschen und weiterentwickeln, wie es z.B. beim evangelischen Hackathon #glaubengemeinsam Anfang April eindrücklich erfahrbar war. Dazu bedarf es jedoch einer spezifischen Kollaborationsplattform, die bei der re:publica nicht zur Verfügung stand.

Der 8. Mai 1945 und unsere Demokratie 

Der Tag der Befreiung von der Gewaltherrschaft des Dritten Reichs, die Millionen Menschen den Tod brachte und auch für viele Überlebende dazu führte, dass sie ihr ganzes Leben von traumatischen Erlebnissen begleitet wurden, jährte sich am 8. Mai 2020 zum 75. Mal - im Land Berlin ein einmaliger Feiertag. Wir brauchen solche Tage, um den Opfern zu gedenken, Zeitzeugen eine Stimme zu geben, den Befreierinnen und Befreiern sowie jenen Staaten zu danken, die unserem Land nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung ausstreckten, und wieder neu bewusst zu machen, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hart errungen wurden. Leider wirkt unsere Gedenkkultur auf mich oft ein wenig hölzern. Stattdessen brauchen wir Formen, die Menschen berühren und begeistern.

Der 8. Mai 1945 öffnete das Tor und schuf die Voraussetzungen zu einer demokratischen Entwicklung zumindest der von den westlichen Alliierten kontrollierten Besatzungszonen. Interessanterweise hat der 23. Mai in unserem kollektiven Gedächtnis eine weitaus geringere Bedeutung - der Tag, an dem vier Jahre nach Kriegsende das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat. Letztes Jahr haben wir 70 Jahre Grundgesetz gefeiert - ob wohl in diesem Jahr noch jemand daran denkt? Der 23. Mai 1949 ist ohne den 8. Mai 1945 nicht denkbar. Der Wandel von einer Diktatur in eine Demokratie ging nicht von heute auf morgen. Die vier Jahre bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes sehe ich als eine Art Reifeprozess, den es brauchte, damit ein demokratisches Bewusstsein wachsen konnte. Und damit war dieser Prozess bei weitem nicht abgeschlossen, wie die Nachkriegsgeschichte gezeigt hat.

Demokratie heute gegen Hass und Populismus zu verteidigen, ist wichtiger denn je. Doch wirkt unsere Demokratie auf mich so, als hätte sie ein geschwächtes Immunsystem. Es braucht neue Anreize aus der Politik selbst, aber auch aus der Zivilgesellschaft, um sie wieder in den Köpfen und Herzen von Menschen lebendig zu machen und gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden. Irland hat z.B. gute Erfahrungen mit dem Instrument der Citizen’s Assembly gemacht - im Losverfahren besetzte ´Bürgerräte`, die zu gesellschaftlich besonders brisanten Themen diskutieren und an parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden. Auch in Deutschland werden gegenwärtig damit Erfahrungen gesammelt. Die SZ sieht in ihnen Krafträume der Demokratie. Wir brauchen aber noch eine Vielzahl weiterer, kreativer Ideen und den Mut Neues auszuprobieren.

Herzensbildung?!

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Wandel im Stillstand

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