Herzensbildung?!
Impuls bei den Tagen für Mitarbeiter*innen der Berliner Stadtmission im September 2017 in Lutherstadt Wittenberg
Das Logo des Deutschen Evangelischen Kirchentages 2011 in Dresden bestand aus zwei Händen, die zu einem Herz geformt sind. Herz zu zeigen ist also nicht schwer. Aber was genau ist ´Herzensbildung`?
In den Werbemedien und Publikationen der Berliner Stadtmission tauchte 2017 ein ungewöhnlicher, so gar nicht zu unserer Alltagssprache gehörender, vielleicht etwas altmodisch anmutender Begriff auf: Herzensbildung. Er war eine Zeit lang Leitbegriff der Stadtmission. So schreibt der Vorstand im Editorial des Heftes „Das 140. Jahr“: „Wir wollen Menschen aus der Perspektive Gottes sehen und Beziehungen gestalten. Unsere Arbeit stellen wir derzeit besonders unter den Begriff der Herzensbildung.“
Warum jetzt Herzensbildung? Und was können wir unter Herzensbildung verstehen?
Eine neue Brille
In den vergangenen Jahren hat die akute Nothilfe, besonders die Arbeit mit wohnungslosen Menschen, starken Raum in der Öffentlichkeitsarbeit der Stadtmission eingenommen - so stark, dass die Menschen immer wieder überrascht sind, wenn man ihnen erzählt, was die Stadtmission noch so alles tut. Wie sähe eine kommunikative Klammer aus, die die Vielfalt ihrer Arbeitsfelder verbindet und die einseitige Wahrnehmung erweitert? Auf der Suche nach Antworten stößt man relativ bald auf das Leitbild der Stadtmission. Dann leuchtet die Mission als Wesensmerkmal der Arbeit auf. Aber wenn man noch ein wenig tiefer gräbt, dann fällt auf, dass uns Bildung in nahezu jeder Einrichtung der Stadtmission begegnet - ob in der Kita oder in der Altenhilfe, in den Hotels und Gästehäusern, in den Gemeinden. Immer, wenn ein Mensch - egal, wie alt er ist - sich seiner Begabungen und Potenziale bewusst wird; wir ihm helfen können ein Stück weit über sich hinauszuwachsen und ein größeres Maß an Freiheit und Verantwortung, Selbstbestimmung und Teilhabe zu erlangen, ereignet sich Bildung.
Bildung stößt Veränderungsprozesse im Leben von Menschen an. Deshalb soll der Bildungsaspekt zukünftig in der Unternehmenskommunikation einen größeren Stellenwert bekommen. Das bedeutet: Wir setzen uns eine neue Brille auf und beginnen unsere Arbeit mit anderen Augen, aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Wir fördern die Bildung in allen Handlungsfeldern und gestalten den Wandel der Stadtmission zu einem Bildungsträger Schritt für Schritt mit.
Auf den Begriff Herzensbildung stieß ich durch eine Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Schon vor 20 Jahren nahm er eine wachsende Ellbogenmentalität in unserer Gesellschaft wahr und forderte: „Wir brauchen Menschen, deren Solidarität auch diejenigen umfasst, die für sie nicht nützlich werden können, und deren Vernunft nicht nur von kalter Rationalität und Effizienzorientierung geprägt, sondern auch von einer raison de coeur, von Herzensbildung also.“ Ich finde, Herzensbildung bringt das Klima und die Haltungen, aus denen unsere Arbeit wächst, am besten auf den Punkt und ist anschlussfähig an unsere vielfältigen Arbeitsfelder.
Ein kleiner Ausflug in die Bildungsgeschichte
Jetzt im Wahlkampf heben viele Politiker wieder hervor, wie wichtig Bildung ist. Aber je nach weltanschaulicher Position unterscheiden sich die Bildungskonzepte deutlich voneinander. Die meisten von uns denken beim Stichwort Bildung wohl an die eigene Schulzeit, an Heranwachsende. Manche auch an die Kita - ein lange unterschätzter Bildungsort, an dem nicht nur gespielt wird, sondern sehr wesentliche Weichen für das ganze Leben gestellt werden. Aber letztlich hört das Lernen nie auf. Bildung ist eine lebenslange Aufgabe. Auch als Erwachsene können, dürfen, wollen und müssen wir lernen.
Der Begriff Bildung wird im 13. Jahrhundert in Thüringen durch den Theologen, Mystiker und Philosophen Meister Eckhart geprägt. Schon auf den ersten Seiten der Bibel, im ersten Buch Mose heißt es: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Meister Eckhart zufolge entstehe ein gebildeter Mensch, wenn sich Jesus Christus als das wahre Ebenbild Gottes in die Seele des Menschen hinein bilde. Somit entfaltet der Mensch seine Menschlichkeit, indem er sich an Gott orientiert. Allerdings ist der Mensch nach Meister Eckhart’s Verständnis in diesem Prozess eher passiv und bildet sich nicht selbst. Bildung bedeutete für ihn das „Erlernen von Gelassenheit“.
Anfang des 16. Jahrhunderts schreiben Luther und Melanchthon in Wittenberg nicht nur Kirchengeschichte, sondern legen auch das Fundament für unser modernes Bildungssystem. Sie setzen sich dafür ein, dass jeder Mensch Lesen und Schreiben lernen kann, denn niemand sollte mehr einfach nur das glauben, was die Pfarrer von der Kanzel predigen, sondern selbst die Bibel lesen und sich eine eigene Meinung bilden können. Zwei Jahrhunderte später lenkt die Aufklärung den Fokus darauf, dass der Mensch nicht nur Geschöpf Gottes ist, sondern sich selbst bildet, weil er sich aktiv seiner Vernunft bedient. Im 19. Jahrhundert geht die Pädagogik als eigene Wissenschaft aus der Theologie und der Philosophie hervor. Sie vermittelt Kompetenzen, mit deren Hilfe eine anregende Lernumgebung geschaffen werden kann, durch die sich ein Mensch die Welt erschließt.
Unsere moderne Wissens- und Kommunikationsgesellschaft fragt heute sehr stark nach dem Nutzen von Bildung. Lohnt es sich überhaupt das viele Geld ins Bildungssystem zu stecken? So wächst das Risiko, dass Bildung lediglich zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft wird. Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen aus dem Reich des Herzens, der Emotionalität und der Menschenkenntnis geriet so zunehmend aus dem Blickfeld. Bildung greift zu kurz, wenn Menschen nur in die Lage versetzt werden möglichst gut in der materialistischen Gesellschaft zu funktionieren. Erst das Buch Emotionale Intelligenz des amerikanischen Psychologen Daniel Goleman half ein ganzheitliches Verständnis von Bildung wieder zu entdecken - Herzensbildung eben. Andere sprechen von Charakter- oder Persönlichkeitsbildung.
Und das Herz?
Wenn man einen Mediziner, eine Braut und einen Pfarrer fragen, was das Herz ist, wird man drei total verschiedene Antworten bekommen. Der erste beschreibt das Herz als lebenswichtiges Organ, das Blut durch unseren Kreislauf pumpt, sodass unser Organismus leben kann. Wer über beide Ohren verliebt ist, für den ist es das Zentrum seiner Gefühle. Ein Pfarrer wird Ihnen bestätigen, dass die Bibel im Glauben keinen Gegensatz zur Vernunft sieht, sondern vielmehr im Herzen den Sitz des Verstandes und der Klugheit, das Innere des Menschen, den Sitz seiner Persönlichkeit. Herz ist nicht etwa Gefühl im Widerspruch zur Logik, sondern steht für Leidenschaft und Klarheit gleichzeitig. Im Herzen fallen Entscheidungen.
Herz + Bildung = Herzensbildung
Die Bibel weiß also von dem „inneren Menschen“. Der Apostel Paulus hat einmal geschrieben (Eph. 3): Wir sollen innerlich stark werden. Ich finde: Anmutiger, umfassender und doch zugleich so kurz und prägnant kann man das Ziel aller Bildung kaum beschreiben. Wir sollen innerlich stark und zu einem unverwechselbaren Charakter werden. Herzensbildung zielt darauf ab, das Herz zu stärken, damit sich eine eigene Identität und ein positives Selbstbild entwickeln kann. Ein so gefestigter Mensch ist in der Lage tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt als Ganze aufzubauen. Herzensbildung erinnert uns daran, dass nicht nur unser Intellekt und Verstand, sondern auch unsere Gefühle und Empfindungen, Kreativität, Kultur und Ästhetik gefördert werden wollen. Herzensbildung bringt in erster Linie unsere Menschlichkeit zum Vorschein, eine Kultur des Mitgefühls, der Barmherzigkeit mit sich selbst und anderen, der Hilfsbereitschaft und der Solidarität (Nächstenliebe).
Herzensbildung wirkt wie ein innerer Kompass und verhilft einem Menschen sich in einer zunehmend komplexen Welt zu orientieren sowie kluge und menschliche Entscheidungen zu treffen. Ein herzensgebildeter Mensch ist fürsorglich, stabil und sozial: Er nimmt Anteil am Leben anderer Menschen - sie sind ihm nicht egal. Er erkennt Potenziale in Anderen und ermutigt sie. Er ist stabil, also widerstandsfähig und reift an den Widrigkeiten des Lebens, anstatt daran zu zerbrechen (das Fachwort hierfür ist Resilienz, also Widerstandsfähigkeit), und er ist ein soziales Wesen. Er kann sich in Gemeinschaft integrieren, ohne sich zu verlieren; kann seine eigenen, auch abweichenden, Meinungen und Werte aufrechterhalten – ohne andere dabei zu verletzen. Er sitzt soz. am Lenkrad seines Lebens und lebt aus einer dem Leben zugewandten Haltung heraus.
Herzensbildung ist mehr als das, was pädagogisch machbar ist. Wir können Herzensbildung nicht umfassend beschreiben, sondern uns nur annähern. Da bleibt etwas Unverfügbares. Eine Herzenshaltung ist nicht direkt pädagogisch vermittelbar. Es braucht vielmehr ein Klima, in dem sie gedeihen kann. Hier überschreiten wir die Grenze der Pädagogik und schaffen vielmehr Raum, in dem wir aufmerksam werden für das Wirken des Geistes Gottes. Natürlich ersetzt der Glaube keine Fachkompetenz - er kann sie aber ergänzen. Ich glaube, dass dann ein Mehrwert entsteht, und der ist in der Stadtmission spürbar.
Ich zitiere Martin Luther: Wir sollen „stark werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne“. (Eph. 3). Wie können wir zu so einer Person heranreifen? - Nebenbei bemerkt: Wussten Sie, dass das Wort „Person“ vom lateinischen per-sonare kommt, was soviel bedeutet wie: durch etwas hindurch klingen? Wenn Jesus Christus in einem menschlichen Herz wohnt, ein Mensch sich seiner Führung anvertraut, klingt also das Gute, das Menschliche hindurch und wird gestärkt.
Vielleicht hilft noch ein anderes Bild: Wenn der Mensch also eine Geige wäre, auf der mal diese, mal jene Saite gespielt würde, dann wäre unser Inneres wie der Resonanzraum, in dem sich die verschiedenen Töne entfalten und schließlich gemeinsam den Klang ergeben, der uns als Person ausmacht. Lassen wir also einen Musiker die Saiten unseres Lebens spielen, der virtuos mit dem Instrument umgehen kann; der den vollen Klang in der Lage ist herauszuholen. Für mich ist Jesus Christus dieser Musiker. Er selbst ist für mich ein Meister der Herzensbildung. Wo er Menschen begegnet, öffnen sie sich und vertrauen sich ihm an. Er spricht in ihre Herzen hinein; hat eine feinsinnige Art zu berühren, was Menschen im Inneren berührt. Er kennt unsere menschliche Sehnsucht, auch unsere Abgründe, Ungereimtheiten, unsere Schwäche für schräge Töne. Von ihm geht eine heilende Wirkung aus. Ich habe viel von den Geschichten gelernt, die Matthäus und Markus, Lukas und Johannes überliefern - vom Barmherzigen Samariter, von der Frau am Jakobsbrunnen, vom Zöllner Zachäus oder vom Verlorenen Sohn. In ihnen steckt unendlich viel Wahrheit und Menschlichkeit. Schlussendlich hat es mir geholfen zu begreifen, dass es weniger auf meinen Glauben an Jesus Christus ankommt als vielmehr, dass Jesus an mich glaubt - trotz meiner eigenen Unzulänglichkeiten oder schlechten Angewohnheiten.
Vielleicht mögen Sie es als schlicht empfinden, weil ich am Ende dieses Impulses doch wieder bei Jesus lande. Ja, ich kann mich an Zeiten in meinem Leben erinnern, in denen auch ich mich schwer tat anzuerkennen, dass schlichte Erkenntnisse die größte Ausstrahlung haben können. Manchmal ist es besser von etwas ergriffen zu sein, was man nicht so richtig greifen kann. Wie Jesus unser Herz wärmt, es verändert und empfindsam macht - genau weiß ich es auch nicht. Aber es funktioniert mit Hingabe und Vertrauen. Jesus will dieses Leben in seiner ganzen Tiefe und Weite in uns wecken - immer wieder. Wenn der Glaube uns regiert, dann entstehen gute Früchte - wie Fehlerfreundlichkeit, Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft, die Möglichkeit jederzeit neu anfangen zu können, das rechte Maß erkennen usw.. Darum geht es auch in der Jahreslosung 2017 (Hes. 36,26): „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben. Und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes - ich übersetze: ein lebendiges, ein menschliches - Herz geben.“ Gute Nachrichten für alle, die in ihrem Leben mehr Ent- als Ermutigung erfahren haben.
Eine Schule in Brandenburg hat sich diese Erkenntnis zu Eigen gemacht und daraus ein ganzes Bildungskonzept entwickelt. Herzensbildung ist dort Pflichtfach. Diese Schule in Neuruppin - übrigens eine evangelische -, ist 2012 aufgrund ihres hohen Niveau des Unterrichts sowie ihres beeindruckendes Schulklimas mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. In der Begründung der Jury heißt es: „Die Schüler werden im täglichen Schulbetrieb für ethisch-soziale Fragen sensibilisiert und lernen früh Verantwortung zu tragen.“ Im Interview mit dem FOCUS sagt die Rektorin: „Wertefragen sind uns wichtig und zu lernen, stets Fragen im Leben zu stellen. Wir wollen den Mut zum Andersdenken pflegen. Wir vermitteln Gottvertrauen. Hierbei geht es nicht ums Missionieren, sondern den Glauben an sich selbst zu finden und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.“
Lesetipp: Anselm Bilgri, Herzensbildung. Bilgris Buch war lange Zeit vergriffen. Der Autor hat es jetzt überarbeitet und vor kurzem neu veröffentlicht.