Take a Walk on the wild Side

Take a Walk on the wild Side

Mit „Take a walk on the wild side“ setzte Lou Reed allen ein Denkmal, die nicht so ganz ins Schema passen. Der Song ermutigt, über den herkömmlichen Rahmen hinauszudenken. Als er 1972 erschien, waren ähnlich ver-rückte Zeiten wie jetzt – Phasen, in denen sich das ganze Koordinatensystem zu verschieben scheint. Wir spüren den Wandel allerorten. Zukunft, so kann man den Eindruck gewinnen, entsteht aus vielen Trampelpfaden. Vielleicht ist es sogar angemessener, nicht mehr von der einen Zukunft zu sprechen, sondern nur noch im Plural von den Zukünften – so der Titel einer Ausstellung im Kunsthaus Graz in diesem Sommer.

Wie können wir angesichts tiefgreifender Veränderungen die Entwicklung der Kirche; die des CVJM zukunftsfähig gestalten?

Im Herbst 2020 sollte in Bremerhaven und zeitgleich in Erfurt und Mainz das EKD-Zukunftsforum stattfinden; ein digital vernetzter Führungskräftekongress für die etwa 500 Leitungspersonen der Mittleren Ebene der Kirche: Superintendentinnen, Dekane, Regionalbischöfe. Ich war für die Vorbereitung verantwortlich. Warum Bremerhaven? Die Stadt verfügt über ein Quartier mit drei herausragenden Museen direkt am Meer. Zwei wollten wir als Veranstaltungsorte nutzen: Das Deutsche Auswandererhaus und das Klimahaus 8° Ost. Es macht den Klimawandel in den Klimazonen entlang des achten Längengrades erfahrbar, der durch die Stadt verläuft. Das Auswandererhaus zeichnet die Lebenslinien der gut 7 Mio. Mitteleuropäer nach, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Bremerhaven aus emigrierten. Next Stop: New York.

Stimmung an einem November-Abend am Klimahaus in den Havenwelten Bremerhaven

Beide Häuser boten Narrative für den Zukunftsprozess, in dem sich die Ev. Kirche sieht: Zum einen verändert sich nicht nur das reale Klima spürbar und fordert uns als ´Familie Mensch` zum Handeln heraus, sondern auch der gesellschaftliche Klimawandel setzt der Kirche zunehmend zu. Im Auswandererhaus schlüpft man in die Rolle eines Migranten, spürt fast hautnah diese eigentümliche Mischung von Ungewissheit und Abenteuerlust im Gepäck. Das Auswandererhaus steht metaphorisch für das Verlassen vertrauter Verhältnisse; für den Wagemut, sich auf eine ungewisse, wenngleich auch gestaltbare Zukunft einzulassen.

Der Rat der EKD wollte die Teilnehmenden des Zukunftsforums auf das Loslassen und Aufbrechen einstimmen. Im Zentrum stand das biblische Motiv der Sturmstillung. In allen Turbulenzen dürfen wir uns daran festhalten, dass Jesus Christus gegenwärtig ist! Das Zukunftsforum sollte helfen, über die Grenzen des bestehenden kirchlichen Systems hinauszudenken, ein Bild der Kirche von morgen zu entwerfen, und Ideen zu teilen, wie dieser kirchliche Transformationsprozess gestaltet werden kann. Die Pandemie verhinderte schließlich, dass die ursprüngliche Planung in Bremerhaven realisiert werden konnte. Das Thema aber bleibt: Wie können wir die Entwicklung der Kirche und die des CVJM zukunftsfähig gestalten? Wovon sollten wir bewusst Abschied nehmen? Worauf steuern wir zu?

Blick in den Rückspiegel: Was prägt uns?

Kirchengeschichtlich leben wir in einer total spannenden Zeit. Wir durchlaufen einen tiefgreifenden Wandel, der die Gestalt der Kirche nachhaltig verändern wird. Meiner Einschätzung nach erleben wir in dieser Dekade und in den kommenden Jahrzehnten nicht weniger als den letzten Akt einer vor mehr als 1.700 Jahren begonnenen Entwicklung. Ich spiele auf die Konstantinische Wende an. Durch die Bekehrung Kaiser Konstantins im Jahr 313 wurde aus einer im Hinterhof des Römischen Reiches entstandenen christlichen Bewegung, die mitunter blutig verfolgt wurde, innerhalb weniger Jahrzehnte eine Staatsreligion.

In den ersten drei Jahrhunderten hingegen waren christliche Gemeinden Hauskirchen; kleine Gruppen, die sich in privaten Wohnungen trafen, um im Verborgenen Gott zu loben und sich gegenseitig zu ermutigen. Die Konversion Konstantins leitete für die christliche Minderheit eine 180°-Kehrtwende ein. Unter dem Schutz des Staates genoss sie plötzlich Privilegien und konnte ihren Glauben öffentlich praktizieren. Die Zahl der Kirchenmitglieder wuchs stark an, aber - und das zählt zu den Schattenseiten dieser Liaison mit der staatlichen Macht - weniger aus religiösen Motiven; also aufgrund der persönlichen Hinwendung zu Gott, sondern oft aus Gründen der Konvention oder aus Angst vor staatlicher Repression. Die Ausbreitung des Christentums und die Missionsgeschichte haben daher bis in unsere Zeiten einen negativen Beigeschmack.

Über rund 15 Jahrhunderte zeichnete sich ´das Christentum` durch eine Einheit von Kirche und Staat und staatsanaloge Kirchenstrukturen aus. In Deutschland begann sich diese Einheit im 19. Jahrhundert zu lösen. Endgültig vollzogen wurde sie mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Seitdem besteht zwischen Staat und Kirche eine Trennung, die als partnerschaftliches Verhältnis gelebt wird. Sie garantiert dem Einzelnen Religionsfreiheit und allen Religionsgemeinschaften Selbstbestimmung, verpflichtet den Staat aber gleichzeitig zu weltanschaulicher Neutralität. Dennoch hielten zumindest die Westdeutschen der Kirche rund fünfzig weitere Jahre die Treue. Die Kirchenmitgliedschaft wurde nicht infrage gestellt und lag bis in die Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts bei annähernd 100%. Erst 1968 wurde zur Zäsur. Einer Kirche anzugehören wird seitdem immer mehr zu einer freiwilligen Entscheidung.

Gleichwohl verlief der Abschmelzungsprozess im Vergleich mit anderen Ländern Europas bislang moderat. Deutschland gilt als strukturkonservativ. Die regionalen Unterschiede in der Kirchenzugehörigkeit können aber erheblich sein. Im Saarland gibt es nur 14% Konfessionslose, in Sachsen-Anhalt hingegen 81 (bezogen auf den Indikator Kirchenmitgliedschaft ist das ´frommste` ostdeutsche Bundesland übrigens nicht Sachsen, wie man vermuten könnte, sondern Thüringen). Nun mehren sich die Anzeichen, dass sich der Exit aus der Kirchenmitgliedschaft beschleunigt. Vermutlich in diesem Jahr sinkt sie unter die psychologisch wichtige Marke von 50%. Christsein verliert dann endgültig den Nimbus des Selbstverständlichen. Wir werden zur Minderheit gegenüber einer mehrheitlich säkularen bzw. andersgläubigen Bevölkerung. Gleichwohl kann auch eine selbstbewusste Minderheit einen Unterschied machen. Die Kirche ist in einigen ostdeutschen Städten ein wertgeschätzter zivilgesellschaftlicher Player und anerkannter Bildungsträger.

Blick nach vorn: Wohin gehen wir?

Im Vorfeld des Zukunftsforums haben wir eine Studie unter 80 Superintendent*innen gemacht und nach ihren Erfolgsfaktoren für die Kirchenentwicklung gefragt. Die große Mehrzahl beschreibt, dass die Institution Kirche zunehmend durch ´Kirche als Bewegung` abgelöst wird. Die Ränder verflüssigen sich. Wir bewohnen zunehmend die Ruinen der Institution. Vor uns scheint eine Situation zu liegen, die wieder mehr mit dem Urchristentum gemeinsam hat und uns zurückführt zu den Quellen. Aber das Gros der Befragten ist zugleich skeptisch, ob die Kirche mit dem Tempo der Veränderungen Schritt halten kann.

Dazu könnte auch die Ernüchterung beitragen, die sich durch die Beschäftigung mit den Sinus-Milieus in der Kirche breit machte. Zunächst löste das Modell, dass seit 1980 den gesellschaftlichen Wandel nachzeichnet, vor zehn Jahren einen regelrechten Hype aus. Das Heidelberger Sinus-Institut geht von zehn Milieus aus - Gruppen Gleichgesinnter, die sich etwa durch eine ähnliche Wertebasis, Alter, soziale Lage, ästhetische Vorlieben, Kommunikationsverhalten oder Mediennutzung auszeichnen. Nahezu jeder Pfarrkonvent beschäftigte sich damit, wie die Kommunikation des Evangeliums milieusensibel gestaltet werden kann. Das Milieu-Modell war ein Augenöffner. Doch zugleich wurden den Pfarrer*innen aber auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten schmerzlich bewusst: Etwa die Grenze ihrer eigenen Milieuzugehörigkeit für die Verkündigung. Denn die Kirche rekrutiert ihr akademisch ausgebildetes theologisches Personal nur aus einen sehr schmalen Milieusegment. Resonanz erzeugen Menschen aber vor allem in ihrem eigenen Herkunftsmilieu. Oder die kulturelle Grenze der einzelnen Kirchengemeinde, die i.d.R. durch ein bestimmtes Milieu dominiert wird. Die Art und Weise, wie das Gros der Gemeinden Gemeinschaft lebt, ist für das Gros der Bevölkerung überhaupt nicht attraktiv. So offenbarten die Sinus-Milieus eine ausgeprägte Milieu-Homogenität des kirchlichen Lebens.

Sinus-Milieus 2021

Studien zeigten, dass die Gemeinden kaum mehr als drei oder vier der zehn Sinus-Milieus in einem relevanten Maße kommunikativ erreichten. Zwar können wir besonders in volkskirchlich geprägten Regionen die Reichweite unserer Kommunikation des Evangeliums durch die Kasualien erhöhen. Oft bleiben dies aber nur punktuelle Begegnungen. Wer also die Milieutheorie auf das gesamte System der Kirche bezog, entdeckte zwangsläufig ihr volkskirchen-kritisches Potenzial. Denn schon damals zeigte sich ansatzweise, dass das parochiale System auf dem besten Weg ist, sich zu einer Monokultur zu entwickeln, und es der Ergänzung bedarf. Bei den Milieus handelt es sich im Grunde um zehn ´Völkchen`. Das Milieu-Modell stellte der Volkskirche die Frage: Wie kann der Wandel von der Volkskirche zur Kirche in den Völkchen gelingen? Leider bestanden in Deutschland lange Zeit Vorbehalte gegenüber milieuspezifischen Gemeinden. Langsam dreht sich aber der Wind.

Welches Kraut hilft gegen die fortschreitende Milieu-Homogenisierung der Kirche?

Oft hilft der Blick über den Tellerrand. AMD und das Greifswalder Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung griffen schon frühzeitig Impulse aus der Anglikanischen Kirche auf. Dort war die kirchliche Bindung viel früher und viel tiefgreifender als in Deutschland erodiert. Zwar sind die Sinus-Milieus m.W. in Großbritannien nicht bekannt, aber auch die Anglikanische Kirche spürte die Pluralisierung der Kontexte und gelangte zu einer sehr ähnlichen Frage, nämlich: Wie kann Kirche in den vielfältigen Kontexten unserer Gesellschaft neu entstehen? Bereits 2004 stellten die Briten die Weichen zugunsten einer gleichrangigen Vielfalt unterschiedlicher Ausdrucks- und Sozialformen christlicher Gemeinschaft. Die Bischöfe leiteten den Wandel ein und formulierten als Ziel eine ´Mixed Economy`. Fresh Expressions of Church sollten entstehen und die alteingesessenen Parochien ergänzen. Davon ausgehend entwickelte sich das Leitbild einer ´Mission-shaped Church`. Michael Herbst übersetzte damals: Mission bringt Gemeinde in Form. Was nach einem vordergründigen Fitnessprogramm klingt, ist in Wahrheit ein tiefgreifender Paradigmenwechsel: Kirche wird nicht mehr von den bestehenden Formen her definiert und handelt im Rahmen dieser Formen missionarisch, sondern die Gestalt der Kirche muss so beschaffen sein und sich permanent verändern, dass sie Lösungen für die missionarischen Herausforderungen und das wachsende Interesse an Spiritualität bietet. Es war die Geburtsstunde einer neuen Haltung, die sich mit dem Begriff missional verbindet. Heute partizipieren in Großbritannien mehr Menschen an Fresh X als am kirchlichen Leben in den etablierten Parochien.

In Deutschland hingegen wird nach wie vor das parochiale System weithin bevorteilt - obwohl man aus der Biologie weiß, dass Monokulturen sehr anfällig auf den Klimawandel reagieren. Mir scheinen deshalb in der Kirchenentwicklung drei Ansätze besonders verheißungsvoll zu sein:

1. Wir müssen Monokulturen durch Mischwald ersetzen. Mischwälder reagieren auf den Klimawandel mit einer höheren Widerstandskraft und sind ein Lebensraum für viele Arten. Mischwald entspricht der mixed economy der Anglikanischen Kirche, die ich am treffendsten mit ekklesiale Vielfalt übersetzt finde. Damit hängt die Frage zusammen: Gelingt es der Kirche, auf die wachsende Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft mit einer wachsenden innerkirchlichen Pluralität zu antworten? Schaffen wir es, etwa die Ressourcen in der Kirche so zu verteilen, dass mit den Jahren ein Mischwald der verschiedenen Ausdrucks- und Sozialformen christlicher Gemeinschaft heranwächst? - Das Zeitfenster bleibt nicht mehr ewig geöffnet.

2. Wir müssen Leben fördern anstatt an Strukturen festzuhalten, die kaum noch Resonanz erzeugen. Ihr alle kennt das tote Pferd, das wir reiten und von dem wir absteigen müssen – ein vielfach bemühtes Bild. Aber jeder hat eine eigene Definition vom toten Pferd. Wir müssen von gefühlten Kriterien zu validen Standards kommen; Instrumente entwickeln, mit denen wir die gesundheitliche Konstitution der Pferde diagnostizieren können – also eine Art Fitness-Tracker für Gemeinden, mit denen wir ihre Vitalität messen und prognostizieren können. So könnte eine Grundlage für Qualitätsentwicklung und schließlich auch für die Ressourcensteuerung entstehen.

3. Wir müssen unsere Angebote stärker von den Bedarfen der Menschen her denken und die Menschen bei ihrer Entwicklung stärker beteiligen. Dabei spielt die Orientierung an Sozialräumen, Nachbarschaften und die Verbindung mit der Stadt- und Regionalentwicklung eine immer größere Rolle.

Wie effektiv sind die Förderprogramme für kirchliche Startups?

Kürzlich hat die EKD die Landeskirchen und andere Akteure, u.a. die CVJM-Hochschule, zum ersten Vernetzungstreffen der sog. Neu-Aufbrüche nach Kassel eingeladen. Fresh X sind ins Zentrum der Aufmerksamkeit gewandert. Wirklich alle EKD-Gliedkirchen, selbst die kleinen wie Schaumburg-Lippe, hatten Delegierte entsandt. Viele haben inzwischen Programme geschaffen, mit denen kirchliche Startups gefördert werden sollen. Oft verbindet sich damit mehr oder weniger deutlich der Wunsch, insbesondere die Kirchenbindung junger Erwachsener zu erhöhen. Manche dieser Programme sind mit mehreren Millionen € ausgestattet. Das ist ein gutes Signal. Aber hier und da hört man auch Stimmen, dass die Mittel in einigen Landeskirchen kaum abgerufen werden oder Mitnahme-Effekte auslösen; also Antragsteller anziehen, die für konventionelle Projekte nach Finanzierungen suchen.

Was lernen wir daraus? - 1) Geld allein bewirkt keinen Aufbruch. Es geht beim Gründen nicht primär ums Geld, sondern darum, die geeigneten Menschen zu finden, die das Zeug zum Gründen haben. Coaching und Mentoring wären wohl bessere Anreize. Und klar: Gründen kostet auch. Die finanziellen Herausforderungen sollten aber erst zu einem späteren Zeitpunkt des Gründungsprozesses thematisiert und gelöst werden. 2) Die Attraktivität der Kirche als Organisation spielt eine Rolle. Die Zahl der Ecclesiopreneure; der Gründer und Erneuerer, um die sich die Kirche nun reißt, ist überschaubar. Womöglich fürchten sie, dass ihnen zu wenig Luft zum Atmen bleibt. Wie ernst meint es die Kirche wirklich mit Innovation? Wie gründungsfreundlich ist sie wirklich? Bei genauerem Hinsehen bestätigt sich, dass die Skepsis nicht von ungefähr kommt: Viele Innovationsförderprogramme lassen einen (zu) deutlichen Steuerungswillen auf Seiten der Kirchenleitung erkennen. Die Verfahren, um an Gelder zu kommen, sind zu schwerfällig und erinnern an konventionelle Projektfinanzierungen, sind aber kaum geeignet, die Kirche nachhaltig zu verändern. Das vergleichsweise starke Controlling lässt die notwendigen Freiräume zum Selbermachen und zum Experimentieren schmelzen wie Eis in der Sonne. Derart gestrickte Programme führen meistens dazu, dass immer mehr vom Gleichen entsteht, aber nicht wirklich etwas Neues.

Ambidextrie als neues Normal

Die steuerfinanzierte Kirche und die unternehmerisch tickenden Ecclesiopreneure - vielerorts ein nicht ganz unkompliziertes Verhältnis. Im Vergleich der Landeskirchen scheint es der Ev. Kirche in Mitteldeutschland am besten gelungen zu sein, ein attraktives Klima für Gründer*innen zu schaffen. Sie war 2014 die erste Landeskirche, die konsequent einen neuen Weg einschlug - den von der Modernisierung oder Weiterentwicklung des Bestehenden hin zur Disruption. In vielen Erprobungsräumen der EKM entsteht Kirche im säkularen Raum völlig neu. Diese Strukturen geraten zwangsläufig in Spannung zur parochialen Grundstruktur der Kirche - allerdings nutzen auch einige Parochien das Instrument der Erprobungsräume, um sich zu verändern. Das Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Logiken in einem System bezeichnet man als Ambidextrie (Beidhändigkeit). Je mehr die institutionelle Form der Kirche im Niedergang begriffen ist, desto mehr wird Ambidextrie zum Normalfall. Die neuen Kirchengestalten setzen die institutionelle Form von Kirche unter Druck und lösen sie womöglich irgendwann ganz ab. Wahrscheinlich existieren sie aber für eine lange Übergangsphase nebeneinander. Aufgabe von Kirchenleitung ist es zunehmend, Ambidextrie zu managen. Entscheidend wird sein, ob es der Kirche gelingt, vor dem Hintergrund dieser zwei Logiken und zugleich sinkenden Steuereinnahmen für Ressourcengerechtigkeit zu sorgen.

Die Berufung neu justieren

Genau in dieser Großwetterlage stellt sich der CVJM die Frage, ob es ´CVJM-Gemeinden` geben soll. Wenn ich von ´CVJM-Gemeinde` spreche, dann meine ich kein detailgetreues Abbild der Parochie im Sinne des Kirchenrechts, das die Verwaltung der Sakramente und Amtshandlungen durch ein Pfarramt einschließt, und die zumeist durch ein Kirchengebäude im Ortsbild sichtbar ist. Vielmehr verstehe ich den Gemeinde-Begriff als erfahrbare Wirklichkeit christlicher Gemeinschaft.

Bei dieser Frage lässt sich der CVJM vorrangig von der Beobachtung leiten, dass die Übergänge zwischen der Kultur eines im hohen Maße von Selbstorganisation geprägten Jugendverbandes und evangelischer Kirchengemeinde immer seltener gelingen. Natürlich hängt diese Entwicklung mit der eingangs skizzierten Milieu-Homogenität der Kirchengemeinden zusammen. Das im Vorfeld dieser Mitgliederversammlung verschickte Papier beschreibt diesen kulturellen Graben ja prägnant. Menschen, insbesondere im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, suchen sich heute mehrheitlich eine Gemeinde, die zu ihrem Lebensstil passt, als sich lediglich der Kirchengemeinde am Wohnort anzuschließen. Ich glaube aber, Eure Berufung ist größer, als lediglich die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Der CVJM sollte weiter springen. Es geht darum, an der Kirche der Zukunft mitzubauen, die sich deutlich von den Bildern unterscheiden wird, die wir in unseren Köpfen tragen. Seht diese Mitgliederversammlung als Zukunftsforum. Nutzt die Chance, über die Grenzen des bestehenden CVJM hinauszudenken und Euch vom Gewohnten zu lösen.

Vom Segen der Kooperation

Alles ist in Bewegung. Dies zwingt uns zum Handeln. Wenn sich alles um uns herum verändert, können wir nicht dieselben bleiben. Gerade große Unternehmen oder Organisationen wiegen sich dennoch häufig in Sicherheit und fühlen sich unangreifbar. Ich glaube, dass die Kirche allein deshalb Zukunft hat, weil sie vom Heiligen Geist bewegt ist. Die Frage ist jedoch, welche Form(en) von Kirche. Aktuell gelingt es der Kirche anscheinend nicht hinreichend, innovative Köpfe an sich zu binden. Ich habe 2006 erstmalig von einem Braindrain gesprochen – junge Leute mit Talent verließen die Kirche, weil sie in ihr vergeblich nach Freiräumen suchten sie zu verändern. Nach Carol Dweck, einer amerikanischen Psychologin, ist das ein Alarmsignal. Menschen mit Potenzial, um den Wandel in Organisationen oder Unternehmen voranzutreiben, - ´ Change-Agents`- haben ein feines Sensorium dafür, ob sie die Leitung darin unterstützt oder nicht. Womöglich brauchen wir einen Bischof für Innovation, um dem Leitbild ekklesialer Vielfalt das nötige kirchenpolitische Gewicht zu verleihen.

Ich möchte noch auf einen weiteren Trend aufmerksam machen: Überall in der Welt stehen die Zeichen auf Kooperation. Wir müssen nicht alles selber machen. Glücklicherweise gehört es auch in der Kirche weitgehend der Vergangenheit an, seine Eigenarten zu pflegen und sich vor allem durch Abgrenzung zu profilieren. Wir müssen Kräfte bündeln und zusammenarbeiten, um etwas bewegen und die Herausforderungen unserer Zeit lösen zu können. Und die Herausforderung, ekklesiale Vielfalt zu verwirklichen, ist wahrlich groß!

Dies vorausschickend glaube ich, dass jetzt die Zeit für neue Koalitionen anbricht - nicht nur in der Politik. Es geht darum, von beiden Seiten, von Kirche und CVJM den Zwischenraum zu besiedeln und dort gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Macht den CVJM fit, um im Bereich Gemeindegründungen mit der Landeskirche zu kooperieren und Euch als Premium-Partner anzubieten! Der CVJM hätte für solche Partnerschaften gleich mehrere Asse im Ärmel:

1. Er ist von seinem Wesen her missionarisch. Ich erinnere daran, dass Mission die Kirche in Form bringt, und nichts anderes.

2. Dies impliziert Agilität und unternehmerisches Denken. Der CVJM verfügt über Gründungs-Kompetenz, und mit dem Master-Studiengang Transformation an der CVJM-Hochschule über einen Hub für Agenten des Wandels.

3. Er genießt das Vertrauen der Kirche und der Öffentlichkeit.

4. Ehrenamt und Teamplay haben im CVJM einen hohen Stellenwert.

Da Ihr keine Zocker seid, habt Ihr natürlich keine Asse im Ärmel, sondern verfügt über Kompetenzen und Charismen. Womöglich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Landeskirchen die Stärken des CVJM entdecken und auf die Idee kommen, ihn ganz pragmatisch mit der Gründung von ´Erprobungsräumen` (oder Fresh X usw.) zu beauftragen. Dann sollte der CVJM bereit sein wie die klugen Jungfrauen. Die Sorge, der CVJM würde in Konkurrenz zu den Kirchengemeinden gehen, halte ich für unbegründet. Meiner Einschätzung nach besteht bei beiden Partnern Konsens in der Frage der Ergänzungsbedürftigkeit der kirchlichen Strukturen. Aus Sicht des CVJM wäre die Kooperation mit der Kirche auch erstrebenswert, um deutlich zu machen: Mit unserer kleinen Neugründung fängt Kirche nicht an. Wir verstehen uns als Teil eines größeren Ganzen; stellen uns hinein in die Geschichte und Tradition der Ev. Kirche; sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen.

Vielleicht erlebt der CVJM also gerade einen Kairos - den optimalen Zeitpunkt, um einen Schritt weiterzugehen und eine Win-Win-Situation zu schaffen. Er müsste 1) anerkennen, dass er vor einer ähnlichen Herausforderung steht wie die Kirche - nämlich die Systemgrenze zu überwinden; in seinem Fall die eines Jugendverbands. 2) Es müssten Kooperationsverträge mit der jeweiligen Landeskirche ausgehandelt und abgeschlossen werden.

Gute Ausgangslage

Dabei ist die erste Hürde relativ leicht zu nehmen, denn es gibt ja längst Beispiele in der CVJM-Geschichte. So wie das CJD als selbständiges Bildungs- und Sozialwerk einst aus dem CVJM hervorgegangen ist, aber eine gemeinsame theologische Basis hat und bis heute miteinander strukturell und freundschaftlich verbunden ist, könnte der CVJM Geburtshelfer für eine weitere eigenständige Marke werden. Im Grunde gibt es mit dem CVJM e/motion in Essen sogar bereits ein skalierbares Modell mit 20jähriger Erfahrung, das also längst über den Status eines Prototyps hinausgewachsen ist und sich etabliert hat. Der Buchstabe E in „e/motion“ könnte für „erwachsen“ stehen, und das englische Wort „motion“ bedeutet übersetzt: Bewegung bzw. Weiterentwicklung. Die Ausgangslage, eine CVJM-basierte Arbeit mit Erwachsenen zu schaffen, wäre also günstig, und der Aufwand gering.

Etwas komplexer, aber durchaus lösbar wäre die Gestaltung der Kooperation mit der Kirche. Sie setzt eine Flexibilisierung des Kirchenrechts voraus; d.h. der Handlungsbedarf besteht auf Seiten der Kirche. Das Brett ist nicht mehr so dick wie einst; die Zeit spielt zugunsten des CVJM. Ich skizziere: Die Kirche bietet ein Anerkennungsverfahren für rechtlich eigenständige, gemeinnützige Rechtsträger (Vereine, Stiftungen, gGmbH’s oder Genossenschaften) an, die auf dem Boden reformatorischer Theologie stehen und nach demokratischen Prinzipien organisiert sind. Aus der Perspektive der Kirchenentwicklung entstünde ein Hybrid – ein Vehikel mit zwei Antrieben. So wie es ja bereits ein kirchliches Stiftungsrecht gibt, könnte ein kirchliches Vereinsregister geschaffen werden. Neu gegründete CVJM-Vereine würden gemäß den staatlichen Bestimmungen errichtet und könnten zusätzlich eine kirchliche Anerkennung erhalten - quasi eine ´doppelte Staatsbürgerschaft`. Sie wären rechtlich, personell und finanziell eigenständig, aber würden enge Beziehungen zur Ev. Kirche auf Basis schriftlicher Kooperationsvereinbarungen und gelebter Zusammenarbeit pflegen.

Die Mitgliedschaft im Verein hätte für die Einzelnen den Status einer ´assoziierten Kirchenmitgliedschaft`, aber würde keine Kirchensteuerpflicht nach sich ziehen. Die Höhe der Mitgliedsbeiträge könnte sich an die Kirchensteuersätze anlehnen. 15% der Einnahmen des Vereins würden für gesamtkirchliche Aufgaben abgeführt. Dadurch bekommt er Zugang zu pastoralen Handlungen, die er selbst nicht erbringen kann, wie z.B. Taufen, Trauungen oder Beerdigungen (s.u.). Der Verein meldet Namen, Geburtsdatum und Wohnort seiner Mitglieder an die Kirche für statistische Zwecke. Für Vereinsmitglieder, die zugleich Vollmitglieder der Kirche und somit kirchensteuerpflichtig sind, erhält der Verein eine Ausgleichszahlung der Kirche.

Weitere Dinge, die zu regeln wären:

  • Wer leitet die Gemeinden theologisch? - Ich mache mich für die EKD-weite Anerkennung theologischer Abschlüsse unterhalb des zweiten theologischen Examens stark, wenn sie an einer theologischen Fakultät oder bei einer der Konferenz missionarischer Ausbildungsstätten angeschlossenen Fach- oder Hochschule erworben wurden. Sie haben alle Rechte von Prädikanten einschließlich der Erlaubnis und Befähigung zur Einsetzung des Abendmahls ein.

  • Die CVJM-Vereinsgründung arbeitet im Sinne ekklesialer Vielfalt auf Augenhöhe und vertrauensvoll mit den Parochien im Dekanat/Kirchenkreis zusammen und hat Sitz und Stimme in den kirchlichen Gremien.

  • Die Landeskirche sollte zusätzlich ein landeskirchliches Pfarramt für neue ekklesiale Formen schaffen, um eine Verbindung zwischen Gründungsinitiativen, Dekanat, CVJM-Leitung und Kirchenleitung zu schaffen. Der Stellenumfang könnte sich nach der Zahl der freien Träger kirchlicher Arbeit richten und wird entsprechend der Zahl ihrer Mitglieder angepasst. Ihm obliegen die Kasualien. Als wesentliches Instrument für Leitung und Qualitätsentwicklung wird Mentoring implementiert.

Ich schließe mit einem Zitat des Reformators Zwingli: Tut um Gottes Willen etwas Tapferes.

Vitalität als Motor von Kirchenentwicklung

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Der keltische Weg

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