Spannend

Spannend

„Ich bin dann mal weg“ - das Buch, in dem Hape Kerkeling seine Erfahrungen beim Pilgern auf dem Jakobsweg beschreibt, stand mehr als ein Jahr auf Platz 1 der Bestsellerliste. An einer Stelle beschreibt er die Kirche als Dorfkino, in dem ein filmisches Meisterwerk läuft. Dieser Film ist Gott. Doch das Kino ist ziemlich runtergekommen: die Leinwand hängt schief, sie ist vergilbt und hat Löcher. Die Lautsprecher knistern, manchmal fallen sie ganz aus. Staub hat sich auf den Film gelegt. Hier und da wird gequatscht. Man bekommt ganze Dialoge nicht mit. 

Aber Hape Kerkeling lässt sich von der zweifelhaften Qualität der Aufführung nicht beirren. Er erkennt das Meisterwerk, an dessen Größe die miese Vorführung nichts ändert. Anhand des Bildes vom Dorfkino will er verdeutlichen: Unsere Menschlichkeit gibt von Gott nur das wider, wozu sie in der Lage ist. Sein Fazit: „Ich hoffe, wir können uns den Film irgendwann in bester Qualität unverfälscht und in voller Länge anschauen! Und vielleicht spielen wir dann ja mit!“

Von dieser Sehnsucht, von dieser ja manchmal schier unerträglichen Spannung zwischen dem, was unser Leben sein könnte, und wie es dann tatsächlich ist, handelt auch das folgende Lied:

1) Herr, du bist die Hoffnung, wo Leben verdorrt,
auf steinigem Grund · wachse in mir;
sei keimender Same, sei sicherer Ort,
treib Knospen · und blühe in mir!

Und ein neuer Morgen bricht auf dieser Erde an in einem neuen Tag, / blühe in mir! Halte mich geborgen / fest in deiner guten Hand und segne mich, segne mich und deine Erde!

2) Herr, du bist die Güte, wo Liebe zerbricht,
in kalter Zeit, · atme in mir;
sei zündender Funke, sei wärmendes Licht,
sei Flamme · und brenne in mir.  /  Und ein neuer Morgen…

3) Herr, du bist die Freude, wo Lachen erstickt,
in dunkler Welt, · lebe in mir;
sei froher Gedanke, sei tröstender Blick,
sei Stimme · und singe in mir! /  Und ein neuer Morgen…

Gedanken dazu 

Gregor Linßen zeichnet das Bild des Menschen in seiner Vergänglichkeit, mit allen seinen Unzulänglichkeiten: Wir wollen das Gute. Wir kämpfen, aber haben nicht immer die Kraft das Gute auch zu vollbringen. Manchmal gelingt es uns, aber oft tut sich eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Wir werden aneinander schuldig. In dieser Spannung ereignet sich unser ganzes Leben.

Unsere Entscheidungen und unsere Taten haben uns zu denen gemacht, die wir heute sind. Die Fehler und Irrtümer kleben an uns; sie gehören zu uns wie die Erfolge und richtigen Entscheidungen. Wir können sie nicht ungeschehen machen. Wir leiden darunter. Wir können uns nicht wie Baron Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. 

Und doch sind wir mehr als nur das Produkt unseres Handelns, unserer Erfahrungen. Erfahrungen können trügen. Gefühle und Stimmungen sind flüchtig und selten von langer Dauer. Der alltägliche Trott, lieb gewordene Gewohnheiten lullen uns ein. Doch von irgendwoher weht die Melodie der Hoffnung zu uns herüber, denn jeder neue Morgen birgt die Chance auf einen Neuanfang in sich. Wo etwas zerbricht, kann auch etwas Neues anbrechen. Manchmal ist es sogar gut, wenn etwas zerbricht, damit etwas Neues entstehen kann. Zwischen dem Leid, das wir spüren und aushalten müssen, und dem Lied, das wir singen könnten, liegt nur ein kleiner Schritt - lediglich die mittleren Buchstaben sind vertauscht! Wir haben die Wahl, ob wir immer wieder ein Klagelied anstimmen wollen, das unserer Gemütslage vielleicht entspricht, oder aber ein anderes, fröhliches Lied, das der Dunkelheit in uns trotzt und die trübe Stimmung vertreibt: „Manchmal hilft nur eins: Schnell den Arsch hoch und tanzen“ - Purple Schulz lässt grüßen.

Im Schöpfungsbericht zu Beginn der Bibel schaut Gott an, was er geschaffen hat, und ist zufrieden. Sehr sogar. Bestnote. Cum laude. Dort heißt es: Siehe, es war sehr gut. Gott hat die Welt vollkommen gemacht. Gott sieht in uns das Gute, zu dem wir fähig sind. Er sieht in uns die Menschen, die wir eigentlich sind, und will nicht, dass unsere Fehler, unsere Bosheit, unsere Halbherzigkeit, unsere Unvollkommenheit dieses Bild entstellen.

Jesus Christus ist die Brücke zwischen unserer Unvollkommenheit und der Vollkommenheit, die Gott geschaffen hat. Er hat auf sich genommen, was unser Gewissen belastet, hat alles ans Kreuz getragen, und dort ist es mit ihm gestorben. Es ist geschehen, aber es ist von uns getrennt. Wir müssen es nicht mit uns herumschleppen, wir können es am Kreuz ablegen und es getrost dort liegen lassen.

Deswegen ist dieses Lied ein Gebet. Wir brauchen uns nicht verstecken oder zurückziehen, sondern können eine Kraftquelle anzapfen, die im Glauben an Gott liegt. In der Hinwendung zu Gott kommt eine neue Sicht in unser Leben hinein, die uns helfen kann, die Verhältnisse zu verändern. Wenn wir Gott bitten: Halte mich, dann kommt eine neue Haltung in unser Leben hinein. Entzünde eine neue Begeisterung in mir, denn ich möchte nicht nur dahinvegetieren, sondern für etwas brennen, ja leben! Ich will mich durch das Evangelium in meinen Meinungen, meiner Lebensweise immer wieder hinterfragen und aufrütteln lassen!

Es mag viele Dinge geben, die uns verhärten, die uns abstumpfen lassen, aber der Glaube kann helfen mit Spannungen zu leben, Gegensätze auszuhalten, elastisch zu bleiben. Im Glauben, in der lebendigen Beziehung zu Jesus Christus, liegt Widerstandskraft, denn hartes Material steht in der Gefahr leichter zu brechen. Elastisches, biegsames, lebendiges Material hingegen hält unheimlich viel aus.

Wir sehnen uns nach Veränderung, wir arbeiten manchmal hart dafür, helfen nach. Doch unserer Machbarkeit sind oft Grenzen gesetzt. Nicht selten habe ich erfahren, dass mir Veränderung zuteil wurde, wenn ich sie mir hab schenken lassen. Wir können Gott durch Gebet in unser Leben hineinziehen.

Veränderung fängt oft im Kleinen, im Verborgenen an. Davon handelt dieses Lied. Wachse in mir, atme in mir, brenne in mir, blühe in mir, lebe in mir - zuallererst geschieht etwas in meinem Inneren, unmerklich oft, zart. Das Lied erinnert mich daran, dass Gott unsere Schönheit zum Leuchten bringen will - nicht etwa, indem er uns auf Hochglanz poliert, sondern es ist seine Liebe, die in unserem Herzen etwas auslöst. Tief im Inneren unserer Seele beginnt Veränderung. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Man sagt, natürliche Schönheit kommt von innen. Es ist Gottes Liebe, die macht, dass diese wahre Schönheit eines jeden von uns zutage tritt und ausstrahlt. Und doch wäre es falsch, Glaube lediglich auf Innerlichkeit zu reduzieren.

Ich habe kürzlich im afrikanischen Busch Urlaub gemacht. Acht Tage Camping-Safari. Jeden Morgen um halb sechs wurden wir geweckt, vor Sonnenaufgang. Jeden Morgen sah ich die Morgendämmerung heraufziehen, bis um etwa viertel vor sieben die ersten Sonnenstrahlen am Horizont zu sehen waren und sie es binnen weniger Minuten taghell werden ließen. Ein wunderschönes Schauspiel. Es lohnt sich manchmal doch früh aufzustehen. Und doch dürfen wir wissen: Der Tag beginnt nicht erst mit dem Morgengrauen. Der Tag beginnt bereits um Mitternacht. Wenn wir die ersten Sonnenstrahlen sehen, sind schon mehrere Stunden vergangen. Der neue Tag bricht im Verborgenen an, zur dunkelsten Stunde der Nacht. Meistens verschlafen wir den Neubeginn. Wir bemerken ihn oft erst viel später.

Der Mensch in seiner Vergänglichkeit - was bleibt? In uns brennt eine tiefe Sehnsucht nach der Konstante, nach Festigkeit, nach Stabilität. Das Lied bezieht sich auf eine Bibelstelle aus dem Buch der Offenbarung (1,8). In einer zeitgemäßen Übersetzung lautet sie:

Ich bin das A und das O, ´der Ursprung und das Ziel aller Dinge`«, sagt Gott, der Herr, der ist, der war und der kommt, der allmächtige Herrscher.

Trotz aller Nichtigkeiten unseres Lebens (Prediger 3) dürfen wir wissen und darauf vertrauen: Gott ist da! Er ist Wandel und Fixpunkt zugleich. Er umfasst alle Schattierungen unseres Daseins. Er verleiht uns Würde und Schönheit.

(Andacht in der Berliner Stadtmission zu Offb. 1,8)

Mal ehrlich!

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Suchen ja - aber Gott?

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