Mal ehrlich!

Mal ehrlich!

Hach, früher war das Leben noch einfach. Als Fake-News nur am 1. April Hochkonjunktur hatten. Und die Lokalzeitung am Tag danach das Geheimnis lüftete, mit welcher Falschmeldung die Leserinnen und Leser in die Irre geführt wurden. - Doch stimmt das wirklich?

Die Bibel ist an Realismus wieder einmal kaum zu überbieten und berichtet schon im ersten Buch Mose im dritten Kapitel über das Streuen von Fake News! Adam und Eva, die ersten Menschen - von Gott instruiert, nicht die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen -, laufen staunend und auch ein wenig naiv durch das Paradies. Bis sie der Schlange begegnen, die Zweifel sät, indem sie eine einfache Frage stellt: “Sollte Gott das wirklich gesagt haben?” Die Früchte leuchten doch so goldgelb in der Abendsonne. Anfänglich hält Eva noch dagegen, im Brustton der Überzeugung, doch es dauert nur ein paar Augenblicke, bis die Fake News beginnen ihre innere Überzeugung zu zersetzen. Schon bald ist sie sich gar nicht mehr so sicher, und so brechen die Dämme. Die Früchte sehen so verführerisch lecker aus - und schwupps, sind sie auch schon zwischen den Zähnen. Ein Biss, was macht das schon? Und Gott ist ja schließlich nirgendwo zu sehen. Kriegt der alte Herr also gar nicht mit. Doch diese ersten Fake News der Menschheitsgeschichte hatten ernsthafte Konsequenzen. Adam und Eva gehen der Schlange auf den Leim und verlieren ihr Zuhause.

Seitdem sind wir auf der Suche nach Wahrheit. Wie schön wäre es, wir könnten Wahrheit als Ziel in unser Navi eingeben und würden automatisch hingeführt. Aber wir müssen den Weg selbst finden. Ich möchte heute ein paar Straßennamen nennen, die zum Ziel führen.

Auch Pilatus trieb diese Frage um. Mit seinem berühmten Zitat „Was ist Wahrheit?“ ging er in die Geschichtsbücher ein. Er hat Jesus verhört und findet keine Schuld an ihm. Doch der Druck der Massen, die rufen: „Kreuzige ihn!“, macht ihm Angst. - Erwartet bitte nicht, dass ich heute auf die Frage des Pilatus eine umfassende Antwort liefern werde; geschweige denn könnte. Die Wahrheit ist ein anspruchsvolles, ja fast uferloses Thema; eine der großen Grundfragen der Menschheit, über die sich Theologen und Philosophen über Jahrhunderte hinweg die Köpfe zerbrochen haben. Wie viele Bücher wurden zu diesem Thema schon verfasst! Allein das zeigt, dass das Streben nach Wahrheit in unserem menschlichen Herz angelegt ist und unsere Existenz bestimmt. Die Suche nach der Wahrheit ist sozusagen konstitutiv für das Wesen des Menschen. Gleichzeitig war die Wahrheit schon zu allen Zeiten gefährdet. Die Wahrheit führt ein Leben voller Risiko. Sie ist wie ein scheues Reh und ständig vom Tod bedroht.

Wir sollten nicht glauben, dass die Zivilisation ein Produkt unserer technologischen Entwicklung allein ist. Vielmehr ist Motor gesellschaftlicher Transformation das Streben danach, der Wahrheit immer ein Stück näher zu kommen, sie zum Vorschein zu bringen oder zum Durchbruch zu verhelfen. Doch wir sollten uns davor hüten uns ihrer zu bemächtigen. Es ist mit der Wahrheit wie mit dem Glauben: Beide sind unverfügbar. Beidem können wir uns nur vorsichtig annähern, hingeben, schenken lassen, in den Dienst stellen. Doch wir können sie nicht besitzen. Wer meint, im Besitz der Wahrheit zu sein, irrt nicht nur gewaltig, sondern er neigt dazu Gewalt anzuwenden gegenüber jenen, die anders denken oder leben. Anderen seine Wahrheit, seine Überzeugung überstülpen zu wollen, war und ist Ursache für unzählige menschliche Konflikte und Kriege.

Was funktionieren könnte, ist für die eigene Überzeugung - ein anderes Wort dafür, was ich meine als Wahrheit erkannt zu haben - zu werben. Ich habe in meinem Leben schon viel über den Begriff „Mission“ nachgedacht, und er zählt leider zu den am häufigsten missverstandenen Worten aller Zeiten. Landläufig gilt als missionarisch ein Mensch mit einer tiefen inneren Überzeugung - sei sie nun religiös begründet oder auch nicht -, der seine Zeitgenossen mit Vehemenz von seiner Sichtweise überzeugen möchte. Als ich Azubi bei Miele war, wurde ich häufig von Harald aufgesucht, einem sehr glühenden jungen Gewerkschafter von der IG Metall. Ein Vollblut-Missionar eben, nur nicht im religiösen Sinne. Er hatte es auf uns Azubis abgesehen; wollte, dass wir in die Gewerkschaft eintreten. Er kannte eigentlich nur ein Thema - nämlich sein Thema - und konnte einem so richtig unangenehm auf die Pelle rücken. Damals kannte ich das Wort „übergriffig“ noch nicht, aber das trifft den Nagel wohl auf den Kopf. Er wähnte sich irgendwie auch im Besitz einer Wahrheit, und setzte alles daran, uns Unwissende von dieser Wahrheit zu überzeugen. Leider fiel Harald dabei auf der Seite der Ideologie vom Pferd.

Seitdem weiß ich: Die Wahrheit hat man nicht, sondern wir ringen gemeinsam um die Wahrheit. Im Vertrauen auf die biblische Verheißung, dass „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ (1. Tim. 2,4). Die Wahrheit ist eine unabhängige Instanz, nicht den subjektiven Ansichten von uns Menschen unterworfen. Sie besitzt ihre eigene Würde, der wir mit Respekt begegnen müssen. Sie ist aber auch verletzlich. Das Ringen um die Wahrheit setzt eine Haltung der Wertschätzung voraus; eine Bereitschaft sich hinterfragen zu lassen und sich auf andere Sichtweisen einzulassen. Wir müssen in den Schuhen des Anderen gehen. Wo es keinen Dialog gibt, kommt die Wahrheit als erste unter die Räder. Für mich war die Unteilbar-Demo im vergangenen Herbst ein eindrückliches Zeichen gegen eine fortschreitende Spaltung unserer Gesellschaft und ein klares Votum für mehr Dialog über die Grenzen der Milieus und Lebenswelten hinweg. Und ich bin ein wenig stolz darauf, dass der Verein querstadtein, dessen Vorstand ich angehöre, zu den Erstunterzeichnern des Unteilbar-Aufrufs gehört. 

„Was ist Wahrheit?“ - Wäre Pilatus einigermaßen bibelkundig gewesen, dann hätte er gewusst, dass Gottes Wort wahr ist. Schon im Alten Testament, nachzulesen bei 2. Samuel 7,28, hat David erkannt: „Herr, du bist Gott, und deine Worte sind Wahrheit.“ Und so konnte Jesus, Mensch gewordenes Wort Gottes, um die Zeitenwende herum den steilen Satz von sich geben: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh. 14,6). Manche haben das als anmaßend, als Gotteslästerung empfunden. Wenn das jedoch zutrifft, dass Jesus die Wahrheit ist, dann gibt es einen objektiven Maßstab für das Gute. Wahrheit ist nicht relativ. Aber wir können diese Wahrheit nicht für uns beanspruchen, sie vor unseren Karren spannen oder Anderen überstülpen. Wir können uns der Wahrheit nur in der Haltung eines Betenden nähern und wie in Psalm 25,5 bitten: „Leite mich in Deiner Wahrheit und lehre mich, Gott!“ Geh vor mir her. Zeig Dich mir. Zieh ein in mein Herz. Orientiere mein Denken und Handeln an Dir. Wenn ich Jesus Christus traue; mich von seinem Wesen prägen lasse; handle wie er; die Menschen mit seinen Augen sehe; und ihn selbst in den Menschen, die meine Wege kreuzen, beginne zu entdecken; so werde ich der Wahrheit Stück für Stück näher kommen. 

Ein weiterer Gedanke: Die Wahrheit braucht Liebe. Die Liebe ist die beste Freundin der Wahrheit; ja der Schlüssel zur Wahrheit. Sonst erstarrt der Glaube zur Moral. Wahrheit und Liebe gehören zusammen. Liebe ohne Wahrheit ist gefühlig und oberflächlich; steht in der Gefahr echte Beziehungen auf Augenhöhe zugunsten falsch verstandener Harmonie zu opfern; neigt Missstände zu verharmlosen. Wahrheit ohne Liebe hingegen wirkt zerstörerisch, kann einem das Blut in den Adern gefrieren lassen oder zutiefst verletzen. Wie oft haben wir schon unserem Gegenüber unsere Wahrheit wie einen kalten Waschlappen um die Ohren gepfeffert! Um unsere Urteilsfähigkeit zu trainieren, um Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können, sollten wir lieben lernen. Die Liebe ist in allem der Maßstab. Denn die Liebe „freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sondern an der Wahrheit“ (1. Kor. 13,6 - Hoheslied der Liebe). Liebe wächst auf dem Boden der Wahrheit. 

Und was ist das für ein Weg, den Jesus verkörpert? Wer bei Jesus in die Lehre geht, dem geht es so: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8,31-32). Die Wahrheit und die Freiheit sind also Geschwister. Sie bedingen einander. Als Südafrika das menschenverachtende System der Apartheid auf den Schrottplatz der Geschichte gebracht hatte, musste die gespaltene Bevölkerung ihre Gräben überwinden, versuchen eine neue, freiheitlich-demokratische Gesellschaft aufzubauen und lernen miteinander zu leben - mit dieser Geschichte, trotz daraus resultierender sozialer Ungleichheit. Präsident Nelson Mandela und Erzbischof Desmond Tutu waren davon überzeugt, dass es ohne Vergebung keinen Neuanfang geben könne. Doch man kann niemanden zur Vergebung zwingen. Und so erfanden Tutu und Mandela die Wahrheits- und Versöhnungskommission; eine Einrichtung zur Untersuchung politisch motivierter Verbrechen während der Apartheidszeit. Mit ihr entstand eine Plattform, die den Opfern der Rassenpolitik - unabhängig von ihrer Hautfarbe - Gelegenheit gab ihre Geschichte zu erzählen. Ziel war es jedoch, Opfer und Täter in einen Dialog zu bringen. Täter, die ihre Taten bereuten, konnten mit einer vollständigen Amnestie rechnen; Opfer mit einer umfassenden Hilfestellung bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen und mit finanziellen Hilfen. Verletzungen können oft nur heilen, wenn ich zulasse mich den Ursachen zu stellen. Das ist oft ein schmerzhafter und kräftezehrender Prozess, erfordert Mut und Geduld. Die Kommission hatte sehr großen Anteil an der Aufarbeitung der Verletzungen und war ein wichtiges Instrument für einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie.

Der christliche Glaube hat schon vielen Menschen die Kraft gegeben für die Wahrheit einzustehen - oft unter sehr widrigen, ja mitunter lebensbedrohlichen Bedingungen. Herr, schenke uns diesen unerschütterlichen Glauben und lass uns durch unsere Art zu leben Zeugen Deiner Liebe sein. Amen.

Sinn und Sinnlichkeit

Sinn und Sinnlichkeit

Spannend

Spannend