Sinn und Sinnlichkeit
2013 habe ich mit meiner Frau Urlaub auf Kreta gemacht. Wir lieben ursprüngliche Plätze jenseits ausgetretener Touristenpfade, wie es z.B. im Osten dieser griechischen Insel der Fall ist. Es gibt dort in den kleinen Bergdörfern Tavernen, die tatsächlich kaum auf Touristen eingestellt sind. Das sind die Besten! Man erkennt sie z.B. daran, dass sie keine Speisekarten haben. Nimmt man auf der schattigen Terrasse Platz, dann bekommt man erst einmal unaufgefordert eine Flasche Wasser und einen Korb voller Brot mit Oliven oder Olivenpaste. Gekocht wird, was die Natur gerade bietet. Doch wie bestellt man ohne Speisekarte und ohne der griechischen Sprache mächtig zu sein? Ganz einfach: Der Wirt nahm uns mit in die Küche. Er ließ uns in die Töpfe schauen, damit wir unser Essen auswählen konnten. Es gibt keine fertigen Menüs, sondern man stellt einfach verschiedene kleine Leckereien zusammen – gerade wonach einem der Sinn steht. Oft gibt es nach dem Hauptgang noch eine süße Nachspeise und einen Raki – meistens selbst gebrannt und auf Kosten des Hauses. Und beim Abrechnen wird auf den vollen Euro abgerundet. Ja, wirklich - abgerundet. Selbst die Finanzkrise, die das Land ziemlich auf den Kopf gestellt hat, änderte nichts an dieser Einstellung.
Vielleicht deshalb, weil Gastfreundschaft in Griechenland eine Jahrtausende alte Tradition hat. Hier scheint etwas aus der Antike bis in unsere Zeit nachzuwirken, denn im Gast, so waren die Menschen im Mittelmeerraum schon seit jeher überzeugt, klopfe Gott selbst an die Tür. Deshalb bedeutet Gastfreundschaft bis heute, den Fremden willkommen zu heißen und ihm das Gefühl zu geben, auf Zeit ein Teil der Familie zu sein. Das Familienleben der Griechen hat einen ganz anderen Stellenwert als bei uns. Gemeinsames Essen, Trinken und Gespräche mit der Familie und den Gästen ist ein bedeutender Teil davon. Diese Art das Leben zu zelebrieren ist auch außerhalb der eigenen vier Wände spürbar. Die Taverne gilt quasi als verlängerte Tafel des heimischen Esszimmers.
Griechische Gastfreundschaft kommt aus dem Herzen. Sie ist ein Wert an sich; eine Haltung. Kommerzielle Interessen stehen nicht im Vordergrund. Niemand würde dem Wirt unterstellen, durch seine Großzügigkeit solle etwa der Gast ´weichgekocht` werden, damit er ein höheres Trinkgeld gibt. Allerdings – wer diese Herzlichkeit erlebt, dessen Herz wird ebenfalls ganz weit; dem fällt es leicht selbst freigiebig zu sein.
An der griechischen Gastfreundschaft wird mir deutlich: Wir nähren uns nicht nur von den Lebensmitteln an sich, sondern auch von der sinnlichen Erfahrung, die in der liebevollen Zuwendung des Gastgebers zum Ausdruck kommt. Aus meiner Sicht besteht nicht nur etymologisch eine Verbindung zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Mit dem Thema Gastfreundschaft nähern wir uns m.E. sogar umfassend an das Geheimnis unseres Mensch-Seins an.
Nomadische Lebensweise: Nährboden für Gastfreundschaft
Gastfreundschaft durchzieht die Bibel wie einen roten Faden. Immer wieder begegnen wir ihren unterschiedlichen Facetten. Dabei kommt das Wort „Gast“ im gesamten Alten Testament gar nicht vor. Vielmehr ist von „Fremder“ die Rede. Und das ist ja durchaus ein doppeldeutiger Begriff, denn damals bewegte die Leute wahrscheinlich noch viel mehr als heute die Frage: Kann ich diesem Fremden trauen? - Ich bin überzeugt: Dass die Bibel und das ihr eigene Verständnis von Gastfreundschaft in einer nomadischen Kultur entstand, spielt eine große Rolle. Im Gebiet des heutigen Israel und seiner Nachbarländer waren Nomadenstämme mit ihren Viehherden von einem Weideplatz zum nächsten unterwegs; und lange bevor die ersten alttestamentlichen Schriften niedergelegt wurden, tradierten die Nomaden ihre Weisheit und ihr kulturelles Erbe in Form mündlicher Überlieferung. Es waren Geschichten, die abends am Lagerfeuer erzählt wurden, bevor sich irgendwann jemand die Mühe machte, sie aufzuschreiben, um sie der Nachwelt zu erhalten.
Gastfreundschaft funktioniert auf Basis ungeschriebener Gesetze. EineErklärung, warum Gastfreundschaft sich nach und nach zu einer Kultur entwickelte, ist ganz pragmatisch: In einer nomadischen Lebensweise muss das Gewähren von Gastfreundschaft eine Selbstverständlichkeit sein; ja sogar noch vielmehr: Es sicherte das Überleben. Wer einem Fremden sein Haus öffnete, der wusste: Schon morgen kann ich selbst derjenige sein, der an die Tür eines fremden Hauses klopft und um Einlass bittet. Den Wert von Gastfreundschaft kann also am ehesten derjenige ermessen, der das Unterwegssein kennt. Gastfreundschaft lernt man am ehesten durch die Erfahrung, selbst Gast zu sein.
Eine andere Begründung ist religiöser Natur. Verschiedene Wissenschaftler sind der Ansicht, das Gastrecht im Alten Testament daraus herleiten zu können, dass das Volk Israel in Ägypten zu Gast war. In Ägypten erlebten sie, wie sie ausgenutzt und als Fremde versklavt oder unterdrückt wurden. Gott hörte das Schreien seines Volkes in der Unterdrückung und führte es in die Freiheit. Gleichzeitig hat er die Haltung der Fremdenfeindlichkeit scharf verurteilt und die Gastfreiheit (der biblische Begriff für Gastfreundschaft) als bleibende Aufforderung legitimiert. Deswegen bestimmt die Tora (so z.B. Ex 22,20): „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.“ Dennoch kann die Begegnung mit manchen Fremden unheimlich, mit Ängsten und auch tatsächlichen Risiken behaftet sein. Deshalb erfordert sie das Aufbrechen verkrusteter Strukturen und das Sprengen eigener Grenzen und Begrenzungen. Die Gastfreundschaft erfordert, ein Stück von sich selbst herzugeben.
Gastfreundschaft stärkt Vertrauen
Die Währung, in der Gastfreundschaft bemessen wird, ist also Vertrauen. Diesen Vorschuss an Wertschätzung, den zwei Fremde einander entgegenbringen, beschreibt Friedrich Nietzsche, den wir eigentlich als einen Wegbereiter des Atheismus kennen, mit den Worten: „Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist es, das Feindliche im Fremden zu lähmen.“
Der preußische Pfarrersohn Nietzsche argumentiert hier gut biblisch und weiß, dass der Mensch sowohl zum Guten als auch zum Bösen fähig ist; und er sieht in der Gastfreundschaft etwas, durch das Positives in unser Leben hineinkommt. Sie kann helfen, die Motive eines Menschen zum Guten zu wenden, etwa Misstrauen in Vertrauen zu verwandeln. Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen: Herzliche Gastfreundschaft fördert die Früchte des Geistes (Gal 5,22-23) reifen zu lassen, z.B. Sanftmut oder Barmherzigkeit. Wer gastfreundlich behandelt wird, zeigt sich selbst von seiner besten Seite.
In der Gastfreundschaft blitzt sogar etwas vom erbarmenden Wesen Gottes selbst auf. Er sehnt sich danach, die Fremdheit zwischen ihm und uns Menschen zu überwinden. Gott sieht uns freundlich an. Er möchte nichts sehnlicher als unser Vertrauen zu gewinnen. In der Bibel wird an vielen Stellen darüber berichtet, dass Gott Gastfreundschaft als ´Landeplatz` nutzt, um im Leben eines Menschen etwas zum Positiven zu verändern. Gastfreundschaft beinhaltet z.B. auch eine seelsorgerliche, heilende Dimension, die wir nicht nur als Einbahnstraße verstehen dürfen, wie der Prophet Jesaja verdeutlicht (Kap. 58, 7): „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn. Dann wird deinLicht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deineHeilung wird schnell voranschreiten.“ Es ist eine tolle Erfahrung, dass, wer für Andere Gastgeber ist, selbst beschenkt wird! Nicht zuletzt deutet sich bei Jesaja auch eine politische Dimension an.
(Teil 1 eines Vortrags aus dem Jahr 2013)