Engel beherbergen
Im 1. Buch der Könige (Altes Testament) wird eine Geschichte voller Überraschungen zum Thema Gastfreundschaft erzählt. Der Vorspann: Ein Land leidet, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen und Menschen ihren Einfluss vor allem für ihre eigenen Zwecke nutzen – heute wie damals. Damals übte Gott Druck auf den ungerechten König Ahab aus, indem er durch seinen Propheten Elia eine Dürrekatastrophe ankündigen lässt. Das Land verdorrt, die Bäche versiegen. Israel wird an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, denn Wasser ist das höchste Gut; das wichtigste Kapital. Ohne Wasser kein Leben.
Wie so oft wird der Überbringer einer schlechten Nachricht als Schuldiger betrachtet. Gottes Bote ist Verfolgung ausgesetzt und muss sich verstecken. Gott sorgt für ihn, aber auch Gottes Bodenpersonal bleibt von der Dürre nicht verschont. Irgendwann trocknet der Bach Krit, der Elia vorläufig Zuflucht geboten hat, aus, weil der Regen auf sich warten lässt.
Hier nun beginnt eine interessante Erzählung, in der zwei Habenichtse sich gegenseitig unterstützen und aufgrund von Gastfreundschaft die überraschende Erfahrung machen, dass Segen in ihr Leben strömt. Lies dazu 1. Kön. 17, 8-16.
Die Geschichte steckt voller eindrücklicher Bilder. Die gnadenlose Hitze, der allgegenwärtige Staub, die alles vereinnahmende Dürre, der Leidensdruck der Protagonisten – alles ist mit den Händen zu greifen.
Allein in der gekrümmten Haltung der Witwe, die vor den Toren der Stadt Holz sucht, um ein letztes Mal Feuer zu machen, drückt sich symbolisch aus, was die Menschen empfanden. Die Dürre lähmt, ja sie erstickt alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Das Leben ist hart geworden; seine Lasten wiegen schwer. Sie drücken nicht nur aufs Gemüt, sondern viele haben so schwer daran zu tragen, dass sie gar nicht mehr aufrecht gehen können. Wer so niedergedrückt ist wie die Witwe, dessen Blickfeld und Aktionsradius ist enorm eingeschränkt. Leute in solch gebückter Haltung sind oft innerlich zerbrochene, verzweifelte Menschen, denen auch noch die Hoffnung abhanden gekommen ist – und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Das Denken vollzieht sich innerhalb eines klar begrenzten Horizonts; eine gebückte Haltung ist auch mental die Vorstufe zur Bewegungsunfähigkeit. Impulse von außen werden nicht mehr wahrgenommen.
Die Witwe bot sicherlich einen erbärmlichen Anblick, als Elia ihr zum ersten Mal begegnete. Aufgrund ihres Anblicks hätte Elia allen Grund zu zweifeln – auch an Gott, dass gerade sie, der selbst alles Nötige zum Leben zu fehlen schien, auch noch ihn versorgen könne. Wie sollte sie ihm helfen?
Dennoch spricht er sie an – ganz im Vertrauen auf Gottes Verheißung. Obwohl seine Bitte offenbart, dass er relativ geringe Erwartungen hat: „Hole mir ein wenig Wasser.“ Und dann: „Bring noch einen Bissen Brotmit.“ Wasser und Brot – eigentlich das Mindeste, was man einem Gast anbieten würde, hier jedoch eine Kostbarkeit. Selbst das einfachste ist Mangelware.
Die Frau hätte allen Grund gehabt zu protestieren und ihn zu beschimpfen: „Siehst Du nicht, wie schlecht es mir geht? Und jetzt kommst Du auch noch und willst von dem wenigen auch noch was abhaben!“ Ihre wirkliche Reaktion hingegen überrascht: Sie geht los in ihr Haus und teilt das wenige mit dem Fremden. Selbst in Zeiten bitterster Not ist Gastfreundschaft ein nicht aufzugebender Wert.
In der Vorratskammer der Frau wird alles sehr überschaubar gewesen sein. Leere Regale. Sie hat keine ´Ressourcen` mehr. Die Frau hat deshalb mit dem Leben eigentlich schon abgeschlossen. Die Zeiten, in denen sie über die Dürre gestöhnt und geklagt hat, sind längst vorbei. Für sie und ihren Sohn steht fest: Wir wollen sterben. Das, was sie noch haben, reicht nicht mehr zum Leben. Meint sie.
Gott ist scheinbar anderer Meinung. Wo wir meinen, am Ende angekommen zu sein, macht er einen neuen Anfang. Das Faszinierende an dieser Geschichte ist, dass Gottes Bote selbst ein Habenichts ist, der mit leeren Händen kommt. Im Gegenteil: Er beansprucht auch noch Hilfe! Was für eine Zumutung! Doch Gott kann aus dem Nichts etwas machen. Wenn wir uns darauf einlassen. Wenn wir uns nicht entmutigen lassen davon, wie scheinbar festgefahren oder aussichtslos manchmal Situationen auch sein mögen.
„Fürchte Dich nicht“ – so klopft die gute Nachricht an die Tür der Witwe. Oder anders ausgedrückt: Lass Dich nicht gefangen nehmen von Deiner Angst. Lass Dich nicht blenden davon, dass alle Strategien, die Du Dir zur Bewältigung Deiner Notlage überlegt hast, nicht greifen. Die Geschichte zeigt auf eindrückliche Weise, dass Hilfe im entscheidenden Moment häufig von außen ins Leben hineinkommt. Es gilt, diesen Zeitpunkt nicht zu verpassen und dafür bereit zu sein, auch wenn alle Lebenserfahrung dagegen zu sprechen scheint. Gott hat alles im Griff. Er will handeln. Rechne mit seiner Gegenwart.
Die Witwe macht gute Erfahrungen damit, sich auf das Unmögliche einzulassen: Auf Elias Zumutung „Mache zuerst miretwas Gebackenes.“ (V 13), gegen die die Witwe rebellieren könnte: „Ich hab doch nichts! Ich kann nichts abgeben!“, reagiert sie positiv und vertraut der Gottes Zusage (V 14): „Denn so spricht der Herr, der Gott Israels: Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden.“ Das Wort Gottes aus dem Mund des Propheten hat Priorität. Es unterbricht ihre dunklen, frustrierenden Gedanken, die nur noch um ihr Sterben kreisten. Es führt sie in eine neue innere Freiheit, die im Angewiesensein auf Gott begründet ist. So wird nicht nur die Witwe unverhofft zum Gastgeber für Elia – Gott selbst erweist sich als Gastgeber für die zwei.
Auch wir erleben Dürrezeiten in unserem Leben. Phasen, in denen alles wie festgefahren scheint und alle erdachten Strategien nichts helfen. Zeiten, in denen wir uns nichts sehnlicher wünschen, als dass Plan B eintritt. Die Haltung der beiden Protagonisten sollten wir uns zu Eigen machen. Wie oft halten wir krampfhaft an dem fest, was doch langsam zur Neige geht; von dem keine Kraft mehr ausgeht? Wie oft sitzen wir wie Elia an ausgetrockneten Bächen und warten auf den nächsten Regenguss, der aber ausbleibt? Wie oft blicken wir wie die Witwe auf zur Neige gehende Ressourcen und drohen aufzugeben? Das gilt für das persönliche Leben genauso wie für unsere Gemeinden und die Kirche insgesamt.
Diese Geschichte lenkt unseren Blick einmal mehr darauf, dass auf der Gastfreundschaft Gottes Verheißung liegt. Im Teilen erfahren wir Segen. Wir werden selbst durch unsere Gäste beschenkt, so sehr sie uns auch manchmal als Zumutung erscheinen mögen. Denn in unseren Gästen begegnen wir Gott selbst.
Dieses Motiv taucht zum ersten Mal übrigens bereits in Gen. 18,1-15 auf. Die Geschichte vom Besuch Gottes bei Abraham in Mamre zählt zu den absoluten Klassikern, wenn es um Gastfreundschaft geht. Gott erscheint inkognito bei Abraham, genießt dessen Gastfreundschaft und verheißt am Ende dem betagten, kinderlosen Paar Abraham und Sara Nachwuchs.
Das Motiv der selbstlosen Gastfreundschaft begegnet uns in der Bibel immer wieder. Gastfreundschaft weist dabei immer über unseren Alltag hinaus, denn in ihr liegt ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit. Beim Evangelisten Matthäus bekommt sie im Neuen Testament sogar eschatologischen Charakter. Wer einem Fremden oder einem Bedürftigen gegenüber gastfreundlich ist, dient letztlich Christus und hat dadurch Anteil am Reich Gottes. Wenn wir uns einst vor Gott für unser Tun und Lassen verantworten müssen, ist u.a. Gastfreundschaft der Maßstab (Mt. 25,34-40).
Diese Haltung spiegelt auch die Ermahnung wider, die wir im Hebräerbrief lesen können: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt“ (Kap. 13,2).
(Teil 2 eines Vortrags aus dem Jahr 2013)