Resonanz
Mit manchen Bibelversen hat man seine persönliche Geschichte. Mit 19, mitten in den Abiprüfungen, fand ich einen Zugang zum Glauben. Ich kann das fast auf den Tag genau festmachen, obwohl ich mich dem Glauben fast zwei Jahre angenähert und dann doch wieder von ihm entfernt hatte. Aber dann war es soweit: Als äußerlich sichtbares Zeichen für den bewussten Anfang, den ich mit Jesus gemacht hatte, kaufte ich am 2. April 1986 eine Luther-Bibel in modernem Deutsch. Vorne auf die erste, leere Seite schrieb ich, sozusagen um mich selbst vorsorglich für schlechte Zeiten zu wappnen, Psalm 103,2: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat.“
Never forget
Zu jener Zeit war mir das „Vergiss nicht“ das Wichtigste. Als wollte ich vor mir selbst noch einmal bekräftigen, dass meine Hinwendung zu Jesus Christus wirklich echt war. Ein unumkehrbarer Einschnitt, die meinem Leben grundsätzlich eine neue Qualität gab. Für mich war es keine neue Richtung, denn ich erlebte meinen ´Deal mit Jesus` nicht als 180°-Wende; als Umkehr, sondern vielmehr als Kontinuität, wie wohl die meisten Menschen. Es war nicht plötzlich alles anders. Ich hatte mich nicht nach Rettung gesehnt, empfand keine Reue für etwaige Sünde, denn ich fühlte mich nicht schuldig. Vielmehr wollte ich ein bewusstes Leben führen und war ein offener Mensch ohne böse Absichten. Ich begann zu staunen, dass Gott längst in meinem Leben Gutes bewirkt hatte, auch wenn mir seine Gegenwart vorher nicht bewusst war, schon gar nicht im Herzen. Ich war wie ein trockener Schwamm, der sich - gemäß seiner Bestimmung - endlich mit Wasser vollsaugt.
„Vergiss nicht“ bedeutet auch: Wie in allen Beziehungen muss man etwas dafür tun, dass der Glaube lebendig bleibt. Denn es gibt vieles, was uns von Gott ablenkt und unmerklich seinen Platz einnehmen kann. Weil er leise Töne liebt, hat Gott es manchmal schwer in unserer Welt. Wir sind einfach vergessliche Typen! Und vergessen auch Gott. (Der inzwischen emeritierte Berliner Theologieprofessor Wolf Krötke toppte diese Aussage noch, als er einmal mit Blick auf den ostdeutschen Atheismus sagte: „Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben.“) Deswegen ist es notwendig, dass wir uns immer wieder an Gott ausrichten, der zentralen Achse unseres Lebens, um nicht ins Schlingern zu geraten. Nicht aus Angst, sondern weil Gott uns gut tut.
Let me fly
Vielleicht fragt Ihr Euch jetzt: Hat sich denn gar nichts verändert durch den neu gefundenen Glauben? - Doch, gewiss. Aber zunächst passierte fast gar nichts. Ich spürte jedoch, dass ich Bibeltexte mit anderen Augen las. Ich entdeckte Botschaften, die mir vorher verschlossen waren, und die auf einmal in mein Leben sprachen. Offenbar wurde ich sensibler für das Wirken des Heiligen Geistes. Also eher: Let me fly statt: Turn back. Der Glaube erschloss mir mein Seelenleben, war soz. Schlüssel zu meiner unterentwickelten emotionalen Seite. Der Glaube half mir meine Persönlichkeit zu entfalten, und ich sah und sehe in Jesus meinen Begleiter auf dem Weg nach innen. Ein ganzheitlicher Lehrer. Gleichwohl hatte mein Glauben schon immer eine weltzugewandte Seite. Ich kam aus der Umweltbewegung, engagierte mich in der Redaktion unserer Schulzeitung, besuchte Seminare der politischen Bildung. Das behielt ich auch bei, als ich stärker in der Gemeinde ehrenamtlich mitzuarbeiten begann.
Erfahrungen sind wichtig für den Glauben
Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Mensch sagen kann: Gott hat mir Gutes getan. Manche blicken auf eine verkorkste religiöse Erziehung zurück; begegneten als Minderjährige einem autoritären oder konservativen Gott, weil ihre Eltern oder ihre Gemeinde autoritär oder konservativ waren. Gott blieb für sie Teil einer moralischen Bubble, aus deren Regelwerk sie sich als junge Erwachsene lösten, aber dieser Loslösungsprozess führte sie nicht zu dem echten christlichen Verständnis von Freiheit. Manch anderer, und das dürfte auf das Gros der Kirchenmitglieder zutreffen, hat Gott schlicht und ergreifend nie erfahren. Sie haben freilich von Gott gehört - in der Schule oder im Konfirmandenunterricht, teilen vielleicht sogar die christlichen Werte und finden es wichtig, dass es die Kirche gibt. Aber ihnen fehlt die persönliche Erfahrung des Glaubens - und die Gewissheit, auch in den größten Schwierigkeiten getragen zu sein und hoffen zu können. Der katholische Theologe Karl Rahner sagte schon 1966 - zu einer Zeit, in der noch 96% aller Westdeutschen einer der beiden großen Konfessionen angehörten: „In Zukunft wird der Christ ein Mystiker sein; jemand, der etwas ´erfahren` hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Wir erleben jetzt, dass sich die kirchliche Bindung immer stärker löst, wenn religiöses Wissen nicht durch religiöse Erfahrung ergänzt wird. Leider gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass Gemeinden immer weniger ein Ort der Gotteserfahrung sind, sondern sich stark mit sich selbst beschäftigen.
Anbetung als menschliche Grundhaltung
Von dem polnischen Philosophen Leszek Kolakowski stammt das mit einem Augenzwinkern gemeinte Zitat: „Der Mensch ist unheilbar religiös“. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Menschsein und Religiosität - also Fragestellungen, die über den Horizont menschlicher Erkenntnis ins Transzendente hinausweisen - über alle Zeiten hinweg untrennbar miteinander verbunden sind. Jetzt lebe ich in Ostdeutschland, einer Region mit einer signifikanten „religiösen Unmusikalität“, wie es Max Weber einmal ausdrückte. Aber ich bin davon überzeugt, dass wo Gott eine Leerstelle ist, die Menschen dieses Vakuum mit anderen Inhalten füllen, die immer das Risiko beinhalten, vergöttert zu werden. Das heißt, charakteristisch für das menschliche Wesen ist eine Haltung der Anbetung. Wo wir jedoch nicht Gott in Freiheit anbeten, laufen wir Gefahr, die falschen Dinge anzubeten. Falsche Bindungen schaffen neue Abhängigkeiten. Deswegen liegt für mich der Schwerpunkt des Verses nicht auf dem Loben, sondern auf dem Herrn. „Lobe den Herrn“ ist also eine Übersetzung des ersten Gebots: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Letzter Gedanke: Loben zählt leider in Deutschland zu den unterentwickelten Fähigkeiten, weil wir so sehr auf Perfektion getrimmt sind. Lange hat es gedauert, bis in der Schule nicht mehr nur die Fehler rot markiert, sondern die Stärken gestärkt wurden. Und viele Chefs meinen: Nicht gemeckert ist genug gelobt. Kurzum: Wir müssen uns dazu anhalten, bewusst mehr zu loben, wenn es denn Grund dafür gibt. Lob ist das Wundermittel, durch das Menschen über sich hinauswachsen. Wenn wir also Gott loben, dann hat das auch einen heilenden Nebeneffekt, auf den schon Sören Kierkegaard aufmerksam machte: „Das Gebet ändert nicht Gott, sondern den Betenden.“
In diesem Sinne: Mut zum Lob!