Adieu, Sven
Ich habe einen Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutete. In diesen Tagen bin ich nah am Wasser gebaut. Sven liebte Geschichten, und so möchte ich meine Reise mit ihm erzählen, so wie viele in diesen Tagen schon ihre Geschichte mit Sven auf Social Media geteilt haben. Sie ist ein Versuch, um meine aufgewühlte Seele wieder in Balance zu bringen.
Das Bild bringt meine Gemütslage ziemlich genau auf den Punkt. Es entstand an einem Februarabend 2020 kurz nach dem Sonnenuntergang in Scarborough, einem kleinen Ort südlich von Kapstadt auf halbem Weg zum Kap der guten Hoffnung. Uns verbindet eine tiefe Liebe zu Südafrika. Scar heißt auf deutsch übersetzt: Wunde. Ich weiß, sie wird heilen, aber momentan schmerzt sie noch gewaltig.
Lieber Sven,
ich wünschte sehnlichst, es gäbe keinen Anlass, um diesen Abschiedsbrief zu schreiben, und wir könnten uns bald mal wieder irgendwo in der Stadt treffen, plaudern, die Zukunft entwerfen, unsere Sehnsucht teilen. Die Nachricht Deines Todes traf mich am Dienstagmorgen mit voller Wucht. Unerwartet, als würde ich vor eine Wand laufen. Ich wähnte Dich auf dem Weg der Genesung und war zuversichtlich, dass Deine Kräfte langsam in Deinen von der wochenlangen Chemo strapazierten Körper zurückkehren. Nun bist Du gegangen - so plötzlich und überraschend, wie Du vor sieben Jahren in mein Leben getreten bist. Es ist so unfassbar und treibt mir immer wieder die Tränen in die Augen.
In diesen Tagen lese ich die Nachrufe auf Dich z.B. in der WELT oder in der Süddeutschen - von Menschen, die Dich viel länger kennen als ich und die faszinierende Lichter auf Seiten Deiner Persönlichkeit werfen, die mir bislang unbekannt waren. Ich sehe Bilder auf Facebook; Menschen schreiben, was sie mit Dir verbindet. Bilder und Emotionen unserer Begegnungen und Erlebnisse, die eigentlich immer energetisch und relaxed zugleich waren, schießen mir durch Kopf und Herz: Die ersten Long Tables im Frühsommer 2014. Wohnzimmerkonzerte im Sharehaus mit Jean Samara. Eure Kunstaktion im Bethanien. Ein Nachmittag bei der Bauhaus-Summerschool in Dessau. Pitch im Social Impact Lab. Die Begegnung mit Inis’ Mutter. Literaturkirche St. Jakobi in Hildesheim. Fahrradtouren ins Havelland. Unser langes Wochenende mit Anton 2015 in Helsinki. Das Grand Opening im Refugio und tausend andere Momente dort. Abende auf der Dachterrasse im Refugio. Iona. Valentinswerder. Karlskrona. Der laue Sommerabend in einer Rooftop Bar am Hauptbahnhof im vergangenen August.
Dein Leben nahm erstaunlich viele Wendungen, willkommene wie unfreiwillige. So lange ich Dich kenne, warst Du Dir der Führung Gottes bewusst. Nur zwei Begegnungen kommen mir in den Sinn, bei denen Du traurig gestimmt warst - die erste im „Nah am Wasser“ in Neukölln. Es waren die Wochen nach dem missglückten Leitungswechsel im Refugio, der Dir auf der Seele lag. Eine längere Zeit der Ungewissheit hatte begonnen. Die zweite war ein langes Telefonat in dem Winter, in dem Du in Griechenland warst und in dem langsam die Idee der School of Love in Euch heranreifte. Selbst als Du mir im Herbst von Deiner Lymphom-Diagnose erzähltest, schienst Du keine Angst zu haben. Du erzähltest mir von einem Traum, in dem Jesus Dich aufgefordert habe, in sein Boot einzusteigen: „Fürchte Dich nicht.“ Und Du vertrautest Dich auch diesmal seiner Führung an - wie so oft.
Die Freundschaft mit Dir zählt zu den intensivsten Erfahrungen meines Lebens. Dabei begegneten wir uns manchmal wochenlang gar nicht face-to-face, aber ich fühlte immer ein unsichtbares, starkes Band zwischen unseren Herzen. Alles begann im August 2012, anderthalb Jahre vor unserer ersten persönlichen Begegnung, mit einem Artikel in der ZEIT: „Ihr glaubt wirklich an die Bibel?“ Elke und Du erzähltet darin, wie ihr in Südafrika Christen wurdet. Wie Ihr diese Erfahrung beschriebt („Radikaler als Punk“), sprach mir zutiefst aus der Seele. Ich hatte selbst einige Jahre zuvor in Südafrika erlebt, wie radikal alltagsrelevant Glaube dort gelebt wird. Für viele Europäer, die Volkskirche gewöhnt und durch die Aufklärung geprägt sind, schlicht nicht vorstellbar. Ein paar Monate später erzählte mir ein Freund, dass der Text der Anfang Eures Buches sei, das dann 2013 erschien: „Es muss im Leben mehr als alles geben“. Ich las es im Sommerurlaub auf Kreta und beschloss, Euch bei unserer nächsten Südafrika-Reise im Herbst zu besuchen. Dazu kam es dann aber leider nicht.
Umso verrückter war es, als Du mir dann völlig unerwartet an einem ungewöhnlich frühlingshaften Samstag im Februar 2014 eine SMS schicktest - mit deutscher Handynummer. Ich war irritiert: Wusstest Du, dass ich Dich eigentlich suchte? Woher hattest Du meine Nummer? Warst Du in Deutschland? Schließlich stellte sich heraus, dass Dirk uns im Hintergrund connected hatte. Schon am nächsten Abend lernten Inis und ich Euch in Schöneberg kennen. Ihr hattet Eure Zelte in Südafrika abgebrochen, erst ein paar Tage hier, erzähltet begeistert vom Sharehouse in Hermanus und wolltet so etwas in Berlin starten.
Die Idee klang so wunderbar unkonventionell, passte voll ins kreative Berlin, und war ohne großen Aufwand zu realisieren. Ich kannte Dich kaum, aber mein Bauchgefühl sagte mir, es könnte der Anfang einer großartigen Geschichte sein. Also: Einfach machen! Ich hatte kurz zuvor bei der Stadtmission angefangen, und suchte für eine etwa 100 qm große Ladenwohnung in der Nähe des Bergmannkiezes nach einer neuen Nutzung. Anfang April fingt Ihr dort an, das Sharehaus einzurichten. Budget war kaum vorhanden, und so begannst Du aus Sperrmüll, den Du in den umliegenden Straßen fandest, Möbel zu bauen. Der Tagesspiegel schrieb zur Eröffnung am 30. April 2014:
Kein Tischbein gleicht dem anderen, eins ist türkis, eins geschwungen und die anderen beiden aus zwei verschiedenen Holzstücken zusammengefügt. Jedes Stück teilt seine eigene Geschichte und seit neuestem sind sie eins. Der Tisch im Sharehaus steht symbolisch für das, was hier entstehen soll: Aus vielen Menschen, unterschiedlichen Talenten und Mitteln soll ein Ganzes, eine Gemeinschaft werden. (…) Das Sharehaus soll ein Ort für Nachbarn und Kreative werden: Vormittags dienen die Räume als Co-Working-Space für soziale Projekte und nachmittags als Nachbarschaftscafé. Sven Lager treibt schon seit jeher der Gedanke des Teilens um: "Jeder hat so viel zu geben, wenn man sich zusammentut, ist man viel reicher.“
Die Idee der „Werkstatt für himmlische Gesellschaft“ war geboren. Im Sharehaus lebte der Geist der Urgemeinde in Jerusalem, von dem die biblische Apostelgeschichte berichtet - leuchtender als in vielen Kirchengemeinden. Das Leben wurde miteinander geteilt. Essen spielte dabei eine große Rolle. Eine Zeit lang bautest Du jeden Mittwoch Abend eine lange Tafel auf, bei schönem Wetter draußen auf dem Bürgersteig. Das Motto: Wir stellen Brot und Butter, und ihr bringt den Rest. So entstand jeden Mittwoch neu eine Zufallsgemeinschaft von Menschen, deren Wege sich vielleicht zum ersten Mal kreuzten und die Beziehungen zueinander aufbauten. Everybody welcome. Manchmal setzten sich einfach Passanten hinzu.
Die Tür des Sharehauses stand immer offen, wenn ihr da wart. Es war keine Gemeinde, und doch ereignete sie sich situativ. Du glaubtest an das Göttliche in jedem Menschen und an die in ihnen schlummernden Potenziale - und schufst eine Atmosphäre, in der die unsichtbare Wirklichkeit Gottes spürbar war. Du wusstest um den verborgenen inneren Raum, den jeder Mensch im Herzen trägt, aber zu dem viele keinen Zugang finden. Aus Deinem inneren Raum strahlte es hell. Du warst kein Heiliger, jedenfalls nicht so, wie man sich landläufig einen Heiligen vorstellt. Aber Du vermochtest in Menschen eine Sehnsucht nach Heilung zu wecken, und sie vertrauten sich Deiner Führung auf eine Reise nach innen an, ohne dass es dafür vieler Worte bedurfte. Das Sharehaus war ein transformierender Ort. Von hier zogen Menschen verändert ihre Wege. Egal, wie groß die Gemeinschaft war - Du sahst den einzelnen Menschen. Du warst nahbar; ein begnadeter Storyteller. Und Du hast Menschen ermutigt, ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von Uwe etwa, der viele Jahre obdachlos war, wurde zu einem kleinen Büchlein „Draußen schlafen ist eine Kunst“, das Du im Eigenverlag herausgabst.
Trotz fast zehn Jahre Leben in Südafrika war Dein Netzwerk in Berlin noch immer beachtlich, sodass das Sharehaus in Kreuzberg binnen kürzester Zeit weit über die Nachbarschaft hinaus bekannt wurde. Ich erinnere mich, dass Elke und Du schon zwei Wochen nach der Eröffnung ungefähr 25 Leute von MTV im Rahmen eines Unternehmens-Sozialtages zu Gast hattet. Ich meine, Ihr hattet den Tag unter die Perspektive gestellt: Wie wollen wir eigentlich leben? Auf einer Schiefertafel draußen an der Hauswand schrieben sie, was sie unbedingt vor ihrem Tod erleben wollten. Es entstanden Gespräche darüber, was das Leben wertvoll macht. Das Sharehaus war ein Melting Pot, so wie Du selbst ein Weltenwanderer warst. Bringing People together: Nachbar*innen, Künstler*innen, Kultur- und Medienschaffende, Geflüchtete, Religiöse und Atheisten … alle kamen sie hier zusammen.
Du warst reich begabt, aber Deine wahrscheinlich größte Begabung war Community-Building. Als wir das Sharehaus auf den Weg brachten, ahnten wir nicht, dass es zum Prototyp für ein viel größeres Sharehaus wurde: Das Refugio in Neukölln - ein Modellprojekt für Integration. Der Name nimmt vordergründig Bezug auf Refugee, aber in einem tieferen Sinne geht es um Pilgerschaft. ´Refugios` werden die Pilgerherbergen entlang des Jakobsweges genannt, den ich 2001 ging. Dort in Neukölln entstand - während der Wochen, als täglich fast 600 Geflüchtete in Berlin ankamen - die wohl bekannteste Gemeinschaft der Verschiedenen in Deutschland. 40 Menschen aus zehn Nationen; Deutsche, Europäer und Ankommer*innen aus Syrien, Afghanistan, Somalia und weiteren Ländern leben bis heute in einem fünfstöckigen Haus der Stadtmission zusammen als interkulturelle und interreligiöse Wohn- und Lebensgemeinschaft. Ich bin zutiefst dankbar, zu den Wegbereitern des Refugio gehören zu dürfen. Die Realisierung dieser ´Weltenfamilie` lag aber wesentlich bei Dir und wäre ohne Dein Charisma und Deiner kraftvollen Vision einer himmlischen Gesellschaft nicht denkbar gewesen. Und Du wusstest selbst, wie es ist, mit wenigen Koffern in Berlin anzukommen, und wie wichtig es ist, Netzwerke zu haben.
Du hast unglaublich viel Herzblut investiert, Dich mit Haut und Haaren reingegeben. Das Refugio wurde weltweit bekannt und inspirierte Nachahmer: ein Ort der Ermutigung und der würdevollen Lebensgestaltung jenseits staatlicher Flüchtlingsunterkünfte mit ihren zahlreichen Reglementierungen. Du halfst Menschen, die unfreiwillig ihre Heimat verlassen mussten, in Berlin anzukommen und sich eine neue berufliche Existenz aufzubauen. Du warst für viele Einzelne ein Mentor. Die Geschichten aus dem Refugio können Andere, die dort lebten, besser erzählen als ich. So oft es meine Zeit erlaubte, tauchte ich dort auf und ein, nutzte die Co-Working-Möglichkeiten im Café.
Ein roter Faden zieht sich durch alles: Du berührtest sanft, was Menschen berührt, und gabst ihnen etwas Kostbares mit auf ihre Lebensreise. Im Sharehaus, im Refugio, in der School of Love, durch Eure Kolumne in der Welt … Selbst in Eurem Reisebuch „Gebrauchsanweisung für Südafrika“ ist davon etwas spürbar. Obwohl Du mitten im urbanen Berlin lebtest, liebtest Du es, am Meer zu sein. Dort, wo sich die beiden Elemente Erde und Wasser berühren. An mehreren Orten, die nah am Wasser gebaut sind, waren wir zusammen: Im letzten Sommer, als ich Euch in Eurem einfachen Urlaubsdomizil in Schweden besuchte, das direkt am Meer liegt. Oder Iona Abbey, auf einer kleinen Insel der schottischen Hebriden. Wir lebten für eine Woche in der Iona Community mit und dachten mit Martin, Priester und Streetworker in einem der ärmsten Stadtteile von Glasgow, über „Lessons from the Margins“ nach, zu deutsch etwa: Lehren vom Rand. Der Titel bezog sich im engeren Sinne darauf, Glaube und Kirche von den Armen und Marginalisierten her zu denken, so wie es auch in der Berliner Stadtmission her geschieht. In einem weiteren Sinne lenkt er aber den Blick generell an den Rand, denn dort geschieht Veränderung. Der Rand ist Dein Element.
So wundert es mich nicht, dass wir uns von Dir in der Sacrower Heilandskirche verabschieden. Näher am Wasser kann man eine Kirche kaum bauen. Wir werden Dir über die Havel hinweg zuwinken. Deine Pilgerschaft hat ihr Ziel gefunden. Du erlebst himmlische Gesellschaft zu 100%. Adieu, mein wunderbarer Freund. Halt mir einen Platz frei.